Vier Beutel Asche: Roman (German Edition)
SMS wieder ein, und ich rief ihn an, aber er ging nicht ran. Also schrieb ich, er soll sich sofort melden, aber er tat es nicht.
27
Ich zählte alle schwarzen Autos, die uns begegneten, bis uns der gleiche Wagen entgegenkam, den Gerber fuhr. Gleicher Typ, gleiche Farbe, nur ein französisches Nummernschild. Als ich erkannte, dass er sogar dieselbe Zahl im Kennzeichen hatte, 4783, wollte ich schreien: »Ausweichen!«
Ich biss mir auf die Lippe, und das Auto war vorbei. Es hatte nicht einmal in unsere Richtung gezuckt.
»Hey!«, motzte Lena. »Wackel nicht rum!«
»Sorry!«, schrie ich zurück. Noch immer atmete ich schwer. Was war das für ein fieser Zufall gewesen?
Ich dachte an Gerber und die Frau, die Maik und Selina erwischt hatte. Hinter dem Wegweiser hatten wir sie nicht kommen sehen und sie uns wohl auch nicht. Entsetzen hatte in ihrem Gesicht gestanden, sie war von uns vollkommen überrascht worden. Natürlich hatte sie Schuld gehabt, aber auch der, der den Wegweiser aufgestellt hatte, und der, der das Partyplakat darangehängt hatte.
Vielleicht hat Gerber Christoph auch nicht kommen sehen.
Drei Monate lang hatte ich diesen Gedanken nicht zugelassen. Auf der Strecke gab es keine Wegweiser, die einem die Sicht nahmen, sie war trotz der Kurven gut zu überblicken.
Es war dunkel.
Und Christoph hatte kein Licht gehabt.
Ohne Licht fährt man vorsichtig, er hat seine Fahrbahn bestimmt nicht verlassen.
Es musste Gerber gewesen sein. Ich wollte seiner Beifahrerin nicht glauben, nicht dem Polizeibericht, der auf wirren Kratzern im Asphalt basierte. Wer konnte das schon ohne Fehler und Zweifel lesen?
Gerber hatte 0,0 Promille Alkohol im Blut gehabt.
Christoph 1,4.
»Trotzdem«, murmelte ich in meinen Helm. Ich starrte auf die Straße und zählte silber-graue Autos. Ich musste mich ablenken, und von der Farbe gab es deutlich mehr als schwarze.
Am Rand des alten Städtchens Fontainebleau sahen wir ein großes Schloss mit vielen Schornsteinen und grauen Dächern, und für einen Moment vergaß ich das Autozählen.
Wir hielten an einer roten Ampel, ein Hinweisschild zeigte nach rechts: Paris 55 km .
»Ich wusste nicht, dass wir so nah an Paris vorbeikommen«, rief Lena über die Schulter zurück.
Wir sahen beide nach rechts, als könnte man von hier schon den Eiffelturm sehen. Doch da war nur die breite Straße voller Autos, Felder und ein weiter blauer Himmel.
Die Ampel wurde gelb, Maik setzte den Blinker, winkte uns und bog ab. Wir folgten ihm. Als er auf den nächsten Kilometern nicht wieder Richtung Westen wechselte, brachte Lena ihren Roller neben seine Maschine und rief: »Wo fährst du hin?«
»Paris.«
»Paris?«, brüllte ich.
»Ja! Christoph war da nie, oder?«
»Was?«, schrie Selina.
»Paris! Er wollte doch immer die Welt sehen, und die Chance dürfen wir ihm nicht nehmen. Paris ist toll!« Maik lachte.
Selina sah mich an, als wollte sie sagen: Durchgeknallt! Hab ich’s dir nicht gesagt?
Hupend zog ein Auto an uns vorbei, und Lena ließ sich wieder zurückfallen. Paris, die Stadt der Liebe. Zusammen mit Lena und Selina. Das war so ziemlich der letzte Abstecher, den ich jetzt brauchte.
Als wir die Vororte erreichten, wusste ich nicht, woher der Beiname der Stadt kam. Der Putz vieler Fassaden war aufgebrochen, billige Wäsche und graue Satellitenschüsseln hingen vor den Fenstern, die Hälfte der Gesichter in den Straßen war hart und verschlossen, die andere Hälfte sah zu Boden. Ich dachte an brennende Mülltonnen, und daran änderten auch ein vereinzeltes Lachen oder spielendes Kind nichts.
Der Verkehr war hektisch und laut, es dauerte ewig, bis wir die Innenstadt erreichten. Am Ufer der Seine stellte Maik sein Motorrad ab und deutete über den Fluss nach rechts und links: »Da drüben ist Notre Dame. Und dort liegt der Louvre.«
So schnell konnte ich keins von beidem entdecken, ich wusste nicht, wie sie aussahen. Alle Gebäude hier waren alt und beeindruckend groß, überall wimmelte es vor Menschen, aber wenn man über die Steinmauer neben der Straße direkt ans Flussufer hinabschaute, sah man dort weniger Leute. Außerdem wirkten sie, als hätten sie alle Zeit der Welt. Dort unten konnte man zu zweit Wein trinken oder spazieren, sich in der Dämmerung näherkommen. Das sah aus wie eine elende Stadt der Liebe. Warum war Maik abgebogen?
»Und da ist eine Brücke, von der du springen könntest«, knurrte ich.
Er lachte. »Nein, da gehen wir einfach rüber. Mit
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