Vier Jungs auf einem Foto (German Edition)
wart auch gern, wenn das okay ist«, sagt dieser Mauricio in seine Gedanken hinein.
Was nun? Einerseits macht es Cristo nervös, dass der Typ da rumsteht wie nicht abgeholt. Andererseits ist es besser, wenn Ruso selber bestimmt, wie er mit dem Besucher verfahren will. Als er schon ja sagen will, kein Problem, er kann gern warten, sieht er durch die Fensterfront, wie Ruso mit einer Zeitung unterm Arm die Straße überquert.
48
Ernesto Salvatierra schiebt den Einkaufswagen mit den Ellenbogen durch den Supermarkt. Er geht die Liste durch, die ihm seine Mutter geschrieben hat, und überlegt, was er bereits in den Wagen gelegt hat und was er noch suchen muss. Mist, er hat den Senf vergessen, aber an dem Ständer mit den Gewürzen ist er schon vorbei. Ist das mit dem Senf wirklich so dringend? Er kehrt zum Hauptgang in der Mitte zurück. Schaut auf den Infotafeln nach. Vier Gänge müsste er zurückgehen.
Da sieht er Ruso, der auf der Höhe des Regals mit den Backwaren auf ihn zukommt. Erst ist seine Miene gleichgültig. Dann macht sich Überraschung breit. Schließlich lächelt er und streckt ihm eine Hand entgegen.
»Polaco! Wie geht’s?«
»Gut, Ruso. Erledige grad ein paar Einkäufe. Und du?«
»Ich auch«, antwortet Ruso und zeigt auf die beiden Brote und die Nudelpackung in seinen Händen.
»Nimmst du dir keinen Wagen?«
»Nicht nötig, ist ja nicht viel. Den eigentlichen Einkauf hat meine Frau neulich erledigt, aber irgendwas vergisst man eben immer.«
Salvatierra nickt resigniert. Seine Mutter schickt ihn täglich zum Einkaufen und beklagt sich trotzdem jedes Mal, dass was fehlt.
»Gibt’s was Neues, Polaco?«
»Hat dir Mauricio nicht’s erzählt?«
Ruso sieht ihn fragend an. »Was erzählt?«
Salvatierras Denkvorgang spaltet sich in zwei Hälften. Einerseits sind da die Neuigkeiten: die Araber, die Mails, die Faxe, das Gespräch mit Mauricio. Andererseits die Ratschläge, die Mauricio ihm mit auf den Weg gegeben hat: verheimlichen, abwarten, schweigen. Salvatierra ahnt, dass er gerade ins Fettnäpfchen getreten ist. Aber wie kommt er da wieder raus?
»Mir was erzählt hat?«, fragt Ruso noch einmal.
Was tun? Salvatierra ist sich bewusst, dass er nicht gerade der Hellste ist, aber es reicht durchaus, um zu erkennen, dass nach einer Ankündigung wie » Hat dir Mauro denn gar nichts erzählt? « eine wichtige Neuigkeit folgen muss. Mit anderen Worten: sich eine harmlose Lüge auszudenken reicht nicht. Außerdem ist er nervlich nicht allzu belastbar. Also lieber die Wahrheit sagen. Aber dann erinnert er sich wieder an Mauricio, wie der ihm eingebläut hat, ja nichts zu sagen. Wie ist er nur in diesen Schlamassel geraten? Alles nur wegen diesem blöden Senf.
49
Sie klingeln, und die Spanierin öffnet ihnen die Tür. Die Frau sieht noch so aus wie vor dreißig Jahren. Sie führt sie ins »Büro«, wo Salvatierra, Pittilanga und Mauricio bereits warten.
Salvatierra begrüßt sie, als wären sie alte Freunde, aber weil sie das nicht sind, wirkt es aufgesetzt. Mauricio beugt leicht den Kopf, steht aber nicht auf. Schade, denkt Fernando, der damals, als Mono starb, davon überzeugt war, dass sie drei der Kleinen einmal gute Onkel sein würden. Aus dem Trio ist ein Duo geworden. Schade. Wieder mal.
Wirklich herzlich begrüßt sie nur Pittilanga, der auch extra aufsteht. Er trägt seine ewigen Sportklamotten – in den Vereinsfarben und mit dem Clubwappen – und wirkt glücklich, geradezu euphorisch.
Bevor er sich wieder setzt, geht Pittilanga zur Wand mit den Postern der Nationalmannschaften und sucht nach dem der WM in Indonesien. Fernando stellt sich zu ihm.
»Welcher bist du, Mario?«, fragt Mauricio von seinem Platz aus.
Pittilanga zeigt auf eine der hockenden Gestalten vorne, betrachtet sich ein Weile und setzt sich dann wieder auf seinen Sessel. Fernando bleibt noch einen Moment stehen. Einige der Jungs auf dem Poster spielen längst in Europa. Zwei oder drei bei argentinischen Clubs. Wieder andere kennt er überhaupt nicht. Die hat der Erdboden verschluckt. Pittilanga hat sich, seit dieses Foto aufgenommen wurde, in der wilden Strömung über Wasser gehalten, die beide Welten trennt: die der Unbekannten von der der Gewinner, die der Ertrunkenen von der der Geretteten. Und in dieser Strömung schwimmt Pittilanga noch immer.
Salvatierras Mutter bringt ein Tablett mit Kaffee und Keksen herein, stellt es auf den Couchtisch und zieht sich mit dem müde wiegenden Gang zurück, den alten Menschen
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