Vier Jungs auf einem Foto (German Edition)
Zum tausendsten Mal fragt er sich, welcher seiner Kollegen so blöd ist, den Kreideschwamm an der Wand auszuklopfen, statt irgendwo draußen an der frischen Luft.
Cáceres hebt die Hand. »Kommen Sie, Lehrer.«
»Gleich noch mal, Cáceres. Sprich mir nach: › Herr Lehrer. Könnten Sie bitte mal kommen?‹«
»Bitte, Lehrer. Kommen Sie.«
Hätte schlimmer ausfallen können, denkt Fernando und geht zu ihm.
»Was bedeutet › erahnen ‹ ?«
»Es bedeutet, etwas bemerken, was noch nicht wirklich zu sehen ist. Verstehst du?«
»Nein.«
»Hm … Es bedeutet, dass etwas, das du vorher nicht sehen konntest, sichtbar wird. Ahnen, das heißt, du bemerkst etwas oder beginnst etwas zu bemerken. Etwas, das du nicht verstanden hattest und zu verstehen beginnst. Hast du’s einigermaßen verstanden?«
Cáceres nickt und wendet sich wieder dem Test zu, der ihm, wie Fernando vermutet, eine miserable Note einbringen wird, so etwa zwischen einem und drei Punkten.
Zwei Dinge stehen fest: Er ist ein Miesepeter und Pedant und die Direktorin und die Vizedirektorin sind zwei Idiotinnen. Außerdem sind die meisten seiner Kollegen absolute Trottel, angefangen mit dem Blödmann, der den Trockenschwamm an der Wand ausklopft, so dass er sich gerade seinen letzten halbwegs präsentablen Pullover versaut hat. Eine weitere Hand hebt sich.
»Was ist, Mendoza?«
»Erah…«
»Erahnen.«
»Genau. Was bedeutet das?«
»Alle mal herhören«, sagt er laut, damit alle es mitkriegen. »Erahnen bedeutet: etwas sehen oder anfangen, etwas zu sehen, etwas bemerken, auf eine Lösung kommen, etwas erkennen, was einem vorher nicht bewusst war. Alles klar? Mendoza, hast du’s auch verstanden?«
»Ja, Lehrer. Danke.«
Während er überlegt, an welcher Stelle des Tests er dieses Verb benutzt hat, schreckt ihn ein Vibrieren am Gürtel auf: sein Handy. Der Anruf bringt ihn aus dem Konzept, aber er schiebt es darauf, dass er das Handy noch nicht lange hat und nicht richtig damit umzugehen weiß. Es ist eine sehr lange Nummer, viel länger als normal. Plötzlich erkennt er an den ersten Ziffern, dass es die Vorwahl von Santiago del Estero sein könnte.
»Hört mal, Leute. Ich erhalte gerade einen wichtigen Anruf. Würde es auch stören, wenn ich rangehe?«
Allgemeines Kopfschütteln.
»Gehen Sie ruhig ran, Lehrer. Aber vielleicht besser auf dem Gang, da ist der Empfang besser«, schlägt Sierra vor, was ihm einige Lacher einbringt.
»Danke für den Tipp, Sierra. Aber wenn ich jetzt rausgehe, kommst du womöglich in Versuchung, bei jemandem abzuschreiben. Und weil du nicht weißt, bei wem du abschreiben sollst, und vor allem nicht, was, wirst du nur nervös. Also bleibe ich lieber hier.«
Er zieht sich in eine Ecke zurück, für den Fall, dass einer der Schüler tatsächlich nachdenkt und sich gestört fühlen könnte.
»Hallo.«
»Hallo. Ich würde gern mit Fernando sprechen. Fernando Raguzzi.«
»Am Apparat.«
»Ah. Hier ist Bermúdez, der Trainer von Mitre.«
»Ach! Wie geht’s? Gibt’s ein Problem?«
»Gut. Nein, nicht direkt ein Problem. Eher Neuigkeiten.«
»Neuigkeiten? Cáceres, schau gefälligst auf dein eigenes Blatt. Entschuldigen Sie, Bermúdez. Wo waren wir stehengeblieben?«
»Wenn es ungünstig ist, rufe ich gern später noch mal an.«
»Nein, nein, keine Sorge. Was wollten Sie sagen?«
»Gerade hat mich der Präsident darüber informiert, dass jemand aus Europa angerufen hat. Aus der Ukraine. Man will wissen, wie viel der Junge kosten soll, Pittilanga.«
»Was?«
»Ein Anruf. Aus der Ukraine. Wegen des Jungen. Den Namen konnte ich mir nicht merken. Nur, dass die wissen wollten, was er kosten soll.«
Fernando schluckt. Er lehnt sich wieder an die Wand. Diesmal ist es ihm egal, ob auf seinem Pullover Kreide hängenbleibt.
»Hallo? Sind Sie noch dran?«
»Doch, doch, Bermúdez.« Seit anderthalb Jahren wartet er auf diesen Anruf, und jetzt weiß er nicht, wie er reagieren soll. »Die werden sich wieder in Verbindung setzen, oder?«
»Bestimmt. Ich habe denen Ihre Nummer gegeben. Ihre und die von Daniel. Wollte nur, dass Sie Bescheid wissen. Vielleicht sind Sie ja interessiert.«
»Na ja, im Prinzip schon. Kommt natürlich auf das Angebot an.« Er ist geistesgegenwärtig genug, die Form zu wahren. »Doch, doch, wir sind durchaus interessiert.«
»Na, gut. Ich will Ihnen nicht länger Ihre Zeit stehlen.«
»Ich bitte Sie! Danke für den Anruf.«
»Keine Ursache.«
»Ciao, Bermúdez. Und danke noch mal.«
»Ciao.
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