Vier minus drei
das hat Heli immer geliebt.
»Warten Sie einen Moment.«
Die Verkäuferin verschwindet hinter einem Regal. Ich höre sie kramen. Wenig später steht sie mit ein paar Gürteln in der Hand vor mir.
Was sehe ich da? Weint sie etwa?
»Ich habe von Ihrem Schicksal gelesen. Ich finde Sie großartig, und ich könnte mir nicht vorstellen, so etwas zu verkraften.«
Oh Gott, was soll ich jetzt bloß antworten?
»Was ist großartig daran, wenn man seine Familie verliert?«
»Ja, ich finde mich manchmal auch ganz beachtlich?«
Das passt doch alles nicht.
»Danke.«
Auch irgendwie blöd.
Mein Blick möchte schon wieder flüchten. Er weiß nicht recht, wohin.
Die Tränen der Verkäuferin rühren mich. Ohne lang zu überlegen, gebe ich meinem Impuls nach: Ich umarme die Frau.
Stumm stehen wir da und halten einander. Der Tod meiner Familie schafft es für einen Moment, zwei wildfremde Frauen zu Freundinnen zu machen.
»Das ist irgendwie komisch, ich habe das Gefühl, dass ich von Ihnen getröstet werde.«
Ihre Worte klingen fast entschuldigend.
Wieder weiß ich nichts zu erwidern. Bedanke mich noch einmal für das Mitgefühl. Und kaufe dann doch den schönen, viel zu teuren Ledergürtel.
Heli, lass uns ein Auge zudrücken. Sieh nur, wie schön ich bin.
Ich musste ein Extraloch bohren, doch dann passte er wunderbar. Noch heute trage ich den Gürtel fast jeden Tag. Das zusätzliche Loch, das brauche ich allerdings schon eine Weile nicht mehr.
Übergang
Begräbnisse haben mich mein Leben lang schon mit Unbehagen erfüllt. Wann immer es ging, habe ich sie geschwänzt. Als Kind hatte ich jedes Mal Angst davor, dass ich dort lachen müsste, wo alle anderen weinen. Meine Tränen wollten nie so recht fließen, wenn jemand gestorben war. Und wenn, dann nie im »richtigen«, im gewollten Moment.
Es gibt eine Geschichte aus meiner Kindheit, an die ich mich noch gut erinnern kann. Ich muss ungefähr fünf Jahre alt gewesen sein. Meine Mutter stand in meinem Zimmer und zeigte mir die grauviolette Version meines ehemals blau-weiß gestreiften Lieblingsrockes. Sie hatte ihn verwaschen. Meine Tränen waren nicht zu stoppen, und meine Mutter, die nicht mehr wusste, wie sie mich trösten sollte, schimpfte schließlich.
»Wegen der Tante Pepi hast nicht geweint, aber wegen dem Rock machst jetzt so ein Theater!«
Ich schämte mich sehr und weinte umso lauter weiter, treuherzig behauptend, dass meine Tränen der kürzlich verstorbenen Großtante galten. Natürlich glaubte mir meine Mutter nicht.
In mir blieb ein nagendes Gefühl zurück. Ich hatte offenbar den rechten Zeitpunkt verpasst, um über Tante Pepis Tod zu weinen. Trauriger war ich dadurch immer noch nicht, aber wenigstens hatte ich nun ein ordentlich schlechtes Gewissen. Die Tante war bestimmt böse, weil ich nicht um sie geweint hatte. Dabei hatte ich sie doch so lieb gehabt. Bei allem Bemühen wollte es mir einfach nicht gelingen, Tränen zu vergießen, weil meine Tante jetzt ein Engel war.
Wie machen das die Großen nur?
Ich wollte dem Fest einen würdigen Namen geben:
Abschiedsfeier?
Nein, bitte nicht! Ich hasse inszenierte Abschiede, vor allem, wenn sie endgültig sind!
Immer schon hatte ich mich vor Verabschiedungen gedrückt, wo es nur ging. Sogar jetzt. Ich wollte viel lieber feiern, dass die Seelen nach dem Tod weiterleben. Dass Heli und die Kinder weiterhin mit uns verbunden bleiben würden. Alles, nur kein Abschied.
Begräbnis?
Schon allein die Vorstellung, die leiblichen Überreste meiner Familie im Dunkeln, tief unter der Erde zu wissen, ließ mich frösteln. Und dann der Friedhof. Sollten Heli und die Kinder ihre letzte Ruhe zwischen lauter Unbekannten finden? An einem Platz, auf dem sie nie zuvor gewesen waren? Was hatten sie dort verloren?
Und ich? Würde ich mich leise über ein kleines Fleckchen Rasen beugen und in der Erde nach Erinnerungen graben?
Könnte ich je aufhören zu graben? Würde ich jemals finden können, was ich suchte? Vermutlich erst dann, wenn das Loch so tief war, dass ich mich gleich zu den dreien legen könnte.
Nein, so wollte ich es nicht haben. Ich wollte alles Irdische, das von Heli, Thimo und Fini noch da war, bei mir behalten. Ihre Überreste. Ihre Asche. Meine Familie gehörte zu mir.
Irgendwann fiel mir ein passender Name ein. Der einzige, der passte:
Seelenfest.
Am Vormittag des 24. März 2008
Ein sonniger Morgen. Warm genug, um einen schnellen Espresso im Freien zu nehmen. Im neuen Café in der
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