Vier minus drei
hören kann, werde ich abgelenkt durch die Umarmung meiner besten Volksschulfreundin, die ich seit vielen Jahren nicht mehr gesehen habe. Wir versuchen ein Lächeln, etwas anderes fällt uns nicht ein. Für Worte ist keine Zeit. Die Umarmungen wollen nicht aufhören, jeder will mich festhalten. Ich werde weitergereicht von freundlichem Gesicht zu liebem Wort, von einer festen Umarmung zur nächsten.
Ich komme mir vor, als wäre ich ein kleines Kind bei einem beliebten Spiel im Turnunterricht: Die Mitschüler bilden zwei Reihen und jeder fasst sein Gegenüber an den Händen. Man wird hochgehoben und auf den Unterarmen
vom einen zum anderen weiterbefördert, fühlt sich fast schwerelos, von einer erstaunlichen Kraft emporgehoben. Getragen von all meinen Freunden, von ihrer Energie, ihren Worten, ihrer Berührung. So fühle ich mich jetzt, und das ist schön.
Gleichzeitig aber ist mir schwindlig. So viele Menschen! Freunde, Arbeitskollegen, Verwandte aus Deutschland und Frankreich. Freunde von Heli, Kinder aus der Nachbarschaft. Studienkollegen. Meine Hausärztin, der Bürgermeister … Ich fühle mich verwirrt, überfordert und bin dennoch seltsam glücklich. Das Netz ist groß. Mein Blick sucht Halt bei der auffälligen Truppe von Clowns, die neben dem Eingang steht und fröhliche Musik zum Besten gibt. Ich winke ihnen zu.
Meine Mutter entdeckt ihr lächelndes Kind in der Menge. Sie eilt auf mich zu und umfängt mich fest mit ihren Armen.
»Hör auf zu lachen, bitte«, flüstert sie.
»Ich lache doch gar nicht.«
»Die Leute reden schon.«
»Welche Leute?«
Ich sehe nur freundliche Gesichter.
»Na, die zwei alten Frauen am Friedhofstor. Gerade eben.«
Verärgert äfft meine Mutter den Ton der Damen nach:
»›Was ist denn das für ein Kasperltheater? Na, die macht sich’s aber leicht!‹«
Hui . Die Leute reden. Über mich. Oh, wie gern würde ich mit ihnen reden , denkt es in mir.
Hätte ich die richtigen Worte gefunden, damals? Vermutlich nicht. Würde es mir heute besser gelingen? Ich will es auf einen Versuch ankommen lassen:
Was ist denn das für ein Kasperltheater?
»Das sind keine Kasperln, es sind Clowns. Meine Kollegen, die ich eingeladen habe, damit sie unsere Herzen heute so leicht wie nur irgend möglich machen. Ich habe mir gewünscht, dass sie die vielen anwesenden Kinder erfreuen. Auch meine Kinder liebten Clowns, und mein Mann war selbst ein Clown.«
Aber so trauert man doch nicht!
»Meine Clownfreunde bemühen sich, ihre eigene Trauer hintanzustellen. Ihre Trauer darüber, dass sie in Heli einen wirklichen Freund verloren haben. Das ist bestimmt nicht leicht für sie. Aber sie tun es für mich, weil ich sie darum gebeten habe. Ihr Frohsinn gibt mir Kraft.«
Die gehören in den Zirkus und nicht auf den Friedhof!
»Meine Freunde stellen sich als Clowns in den Dienst der Lebensfreude, damit uns, die wir trauern, vielleicht das eine oder andere Lächeln gelingt. Um uns daran zu erinnern, dass das Leben trotz allergrößten Kummers auch Schönes zu bieten hat.«
Dieser Lärm! Bitte, es heißt doch nicht umsonst »Friedhof«. Die Trauernden wollen Frieden und Stille!
»Die Clowns machen fröhliche Musik, damit mein Mann und meine Kinder uns hier auch finden. Denn das Fest, das wir feiern, ist für sie.
Na, Sie stellen sich den Himmel aber lustig vor!
»Ich glaube, dass Engel es gern mögen, wenn wir Menschen hier auf Erden nicht vergessen, was es heißt, heiter
zu sein. Dann sind wir ihnen nämlich gar nicht so unähnlich. Außerdem könnten es meine Kinder vermutlich überhaupt nicht verstehen, wenn ich weinte. Es geht ihnen ja gut, und sie sind immer bei mir in meinem Herzen. Sie würden versuchen, mich zu trösten. Und wären verwirrt, wenn ich ihren Trost nicht hören wollte. Ihnen zuliebe bemühe ich mich ernsthaft darum, fröhlich zu sein!«
Also, das ist ja eine Einstellung! Da kann man sich nur wundern, dass Ihnen das gelingt.
»Ich wundere mich ja auch über mich selbst. Aus irgendeinem Grund funktioniert es aber. Sogar heute. Vor allem, wenn ich mich darauf besinne, dass mit meinem Kummer niemandem, wirklich niemandem geholfen ist.«
Na, Sie machen es sich aber leicht!
»Ja, in der Tat. Ich versuche es mir so leicht zu machen wie nur irgend möglich. Wie Sie sich vielleicht vorstellen können, ist meine Situation nämlich ohnehin schwer genug. Ohne dass ich es mir ausgesucht habe, bin ich von einem Tag auf den anderen allein. Habe keinen Mann mehr, dem ich meine Liebe
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