Vier minus drei
Zuwendung berührt mich zutiefst. Ich merke erst jetzt, wie sehr sich mein Körper und meine Seele nach kindlicher Energie sehnen.
Ein Bub klettert auf meinen Schoß und beginnt mich sanft zu streicheln. Ich entsinne mich, dass gerade er in
letzter Zeit immer wieder intensiv mit Thimo gespielt hat. Ich umarme ihn und wiege ihn hin und her, wir genießen beide die Nähe zueinander.
Die Betreuerinnen betrachten die Szene mit staunenden Augen und offenem Mund. Sie haben den Buben noch nicht oft in so ruhigem Körperkontakt gesehen, schon gar nicht mit einer nahezu Fremden. Später erzählen sie mir, dass dieser kleine Junge zu Hause bisher kaum über Thimos Unfall sprechen konnte. Die Eltern waren offensichtlich überfordert. Sie wussten nicht, wie sie ihrem Kind den Tod des Spielkameraden erklären sollten. Ihre Unsicherheit war schnell in Schweigen übergegangen.
Während der Bub auf meinem Schoß sitzt, habe ich das Gefühl, dass er seinem Freund Thimo auf diese Art und Weise noch einmal seine Zuneigung zeigen will. Er akzeptiert mich als Stellvertreterin, durch die er mit Thimo kommunizieren kann. Zärtlich. Ohne Worte. Voll unaussprechlicher Liebe.
Ich fühle mich beschenkt durch die Liebkosungen des Buben, der Thimo in diesem Moment verblüffend ähnlich ist. Nützt Thimo die Gelegenheit, mich hier durch einen Stellvertreter zu besuchen? Mich zu berühren in einer Art, die ich verstehe?
Die Jause ist zu Ende. Ich verabschiede mich von den Kindern, dankbar und erschöpft zugleich. Der Alltag im Kindergarten geht weiter. Meinen muss ich erst wieder finden. Irgendwann.
Nach einem ausgiebigen Mittagsschlaf fahre ich zu Hannes, dem Lebensgefährten meiner Freundin Sabine. Ich
möchte für das Begräbnis Fotocollagen zusammenstellen und brauche dafür einen Computerexperten. In Hannes’ Wohnung, an seinem Computer, füge ich ein Bild an das andere und tauche dabei unwillkürlich in Erinnerungen ein.
Ich lache. Ich erzähle. Ich weine. Hannes hört zu. Er ist einfach da. Heli und die Kinder hat er noch nicht sehr lange gekannt, und das ist mir eigentlich ganz recht. Ich will meine Erinnerungen ja gar nicht teilen . Ich will sie eher mir selbst erzählen. Ich bin froh, dabei ein neutrales Gegenüber zu haben.
Hannes macht seine Sache großartig. Ich die meine auch.
Gratuliere, Barbara, du machst gerade ein Stück Trauerarbeit. Weiter so!
Es ermuntert mich eine Stimme in meinem Kopf. Jene Stimme, die mich begleitet seit der Minute, in der ich vom Unfall erfuhr und die seither nahezu jede meiner Handlungen kommentiert.
Während ich die Fotos am Computer ordne, wende ich das Wort Trauerarbeit in meinem Kopf hin und her.
Kann ich meine Trauer abarbeiten? Bin ich vielleicht gerade dabei? Kann ich den Prozess des Trauerns aktiv vorantreiben und dadurch beschleunigen? Liegt es an mir, brav meine Hausaufgaben zu machen, um den nötigen Prozess gut und schnell hinter mich zu bringen?
Meine Intuition raunte mir schon damals zu, dass es so nicht sein würde.
Die Trauer lässt sich in keine Agenda pressen, sie sucht sich ihre eigene Zeit, ihr eigenes Tempo. Sie konfrontiert
uns meist genau mit den Aufgaben, auf die wir am allerwenigsten vorbereitet sind. Dabei ist sie unberechenbar und individuell.
Ich habe meine Trauer mittlerweile als weise Lehrmeisterin in mein Leben integriert, wohl wissend, dass sie ihre Lektionen noch lange nicht beendet hat. Auf ihrem Lehrplan standen bisher ungezählte Stunden der Selbsterforschung und der Aufarbeitung uralter Wunden. Stunden der Reflexion. Über Lebenssinn, Lebensweg, Ziele und Wertigkeiten. Die Trauer ist eine gütige und geduldige Lehrmeisterin. Scheitere ich an einer ihrer Lektionen, so kommt diese eben später nochmals auf den Stundenplan.
Wird es jemals eine Reifeprüfung geben oder ein Zeugnis, das mir bestätigt: Du hast es geschafft ? Ich glaube nicht. Vielleicht wäre ich sogar traurig, wenn es so käme. Noch jedenfalls bin ich für jede einzelne Lektion dankbar.
Die Collagen, die an jenem Nachmittag in der Wohnung meines Freundes entstanden, zieren heute die Wand meines Wohnzimmers. Sie machen so manchen Gast, der nichts über meine Vergangenheit weiß, mit meinem Mann und meinen beiden süßen Kindern bekannt. Mich selbst erinnern sie daran, dass ich zumindest eine Lektion schon ganz gut begriffen habe.
Die Zeit mit meiner Familie ist endgültig vorbei. Sie war wunderschön, daran ändert selbst ihr plötzliches Ende nichts. Ebenso verhält es sich
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