Vier minus drei
doch auch mit meiner Kindheit. Auch sie ist vorbei und kommt nicht wieder. Genauso, wie ich an meine Kindheit zurückdenke, ohne Schmerz, mit Freude im Herzen, so will ich die Zeit mit Heli und unseren
Kindern in Erinnerung behalten. Als ein weiteres Stück meines Lebens, das ich hinter mir lassen musste und dennoch weitertrage, als einen Teil von mir.
Jetzt zwinkern sie mir zu, die Bilder an der Wand.
Hör auf zu philosophieren! Erzähl weiter, von uns, von dir!
Ich zwinkere zurück und komme ihrem Wunsch gern nach, kehre zurück in das Städtchen Gleisdorf, in die Zeit kurz nach dem Tod meiner Familie.
Am Donnerstagmorgen, gerade als ich mich zu einem Spaziergang aufmachen will, klingelt mein Handy. Ich muss in Gedanken versunken gewesen sein, sonst hätte ich den Anruf mit der unterdrückten Nummer vermutlich gar nicht angenommen. Ich gehe nicht gern ans Handy, neuerdings. Mein Unterbewusstsein erinnert sich bei jedem Klingeln daran, dass aus diesem Apparat unerwartete und schreckliche Nachrichten an mein Ohr dringen können. Unbekannte Nummern sind mir besonders suspekt.
Am Apparat ist eine Zeitungsredakteurin. Ich kenne sie bereits von früher. Sie hat mich einmal im Krankenhaus begleitet, um wenig später einen sensiblen Artikel über die Arbeit der »Roten Nasen Clowndoctors« zu schreiben.
Sie fragt, ob sie ein Interview mit mir machen dürfe. Meine Mail habe sie sehr beeindruckt.
»Wie sind Sie denn an den Text gekommen?«
»Na, Sie selbst haben ihn mir doch geschickt!«, gibt sie überrascht zurück.
Mir geht ein Licht auf. Wie oft habe ich doch die Ankündigungen unserer Theaterstücke an jene Zeitung geschickt! Die Adresse der Redaktion war natürlich in meinem Mailverteiler. Ohne es zu beabsichtigen, bin ich mit meiner Erzählung über Helis, Thimos und Finis Tod an die Presse herangetreten und stehe jetzt vor der Entscheidung, ob ich dazu stehen will oder nicht.
Ich überlege nicht sehr lange. Durch Dutzende Antwortmails habe ich bereits erfahren, dass Menschen dankbar sind für meinen offenen Umgang mit meiner Trauer und dass sie meine Worte als tröstlich empfinden.
Wenn das, was ich erzähle, irgendjemandem hilft, sollte ich es nicht für mich behalten .
Ein Zeitungsinterview bietet mir außerdem eine gute Gelegenheit, mich bei meinen Kollegen von den Roten Nasen für ihre Unterstützung zu bedanken.
Die Leute sollen wissen, welch großartige Menschen hinter der Roten Nase stecken. Wie wertvoll die Arbeit ist, die sie tun.
Das Interview findet noch am selben Tag statt. Am folgenden Morgen sehe ich mein Bild und eine kurze Geschichte in der Zeitung. Einige Ausschnitte aus meiner Mail sind mit abgedruckt. Der Artikel schildert das Wesentliche, ohne dabei auf die Tränendrüse zu drücken. Ich bin dankbar und erleichtert.
Freitagvormittag
Ich komme gerade aus der Buchhandlung. Eigentlich wollte ich ein biographisches Buch kaufen, von irgendeinem Menschen, der den Tod eines Angehörigen gut überstanden hat und so darüber schreibt, dass es Mut macht. Leider bin ich nicht fündig geworden. Also kaufte ich ein paar andere Bücher. Über Nahtoderlebnisse. Trauerprozesse. Parapsychologie.
Ziellos schlendere ich nun durch die Fußgängerzone, um noch ein wenig frische Luft zu schnappen und mir die Zeit bis zum Mittagsschlaf zu vertreiben.
Schon seit heute früh merke ich, dass viele Blicke auf mich gerichtet zu sein scheinen. Neugierige Blicke, die meisten verstohlen, zugleich aber sanft und voll Mitgefühl.
Die Zeitung! Wir sind in einer Kleinstadt, die Leute erkennen mich. Umso besser, ich bin froh über jeden, dem ich nichts erklären muss.
Manche Blicke erwidere ich. Meistens schaue ich zu Boden. Oder in ein Schaufenster.
Ich komme an ein Schuhgeschäft, halte an, trete ein.
»Ich brauche einen Gürtel, meine Hose rutscht seit ein paar Tagen.«
Die Verkäuferin schaut mich liebevoll an und nickt bedächtig.
»Ja, ich glaube, ich weiß, warum.«
Aha. Sie hat heute schon die Zeitung gelesen. Muss ich etwas darauf sagen?
Unsicher wende ich meinen Blick ab, meine Augen wandern zum Ständer, auf dem die Gürtel hängen.
»Der hier wäre schön.«
Leder. Weich. Wunderschön. Aber leider zu teuer.
Helis Stimme klingt mir im Ohr: Wir müssen sparen.
Ja, Heli, du hast Recht. Wer weiß, wann ich wieder arbeiten kann.
Die billigen Gürtel gefallen mir leider nicht.
»Kommen Sie mit, hinten im Lager haben wir noch einen Korb mit Abverkaufsware.«
Ich folge.
Abverkauf,
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