Vier minus drei
einmal im Kindergarten erhalten hatte:
Wenn du Thimo mitteilen willst, wie es dir geht, erfinde immer eine Geschichte. Von Tieren oder Blumen oder Elfen. Das hilft euch beiden, Klarheit zu gewinnen.
Ich habe es oft probiert, und die Geschichten, die entstanden, waren schön und heilsam, nicht zuletzt für mich selbst. Wenn ich Sorgen hatte, erzählte ich Thimo Geschichten,
und oft verstand ich danach viel besser, was mein eigentliches Problem war. Mitunter, wenn ich auf Heli böse war, machte ich auch daraus eine Geschichte für Thimo. Es kam vor, dass ich während des Erzählens plötzlich Helis Standpunkt begreifen konnte. Am Ende des Märchens war meine Wut nicht selten verraucht, und ich fand mein persönliches Happy End in den Armen meines Mannes.
Auch heute, zum Kreisgespräch, habe ich eine Geschichte mitgebracht.
»Wisst ihr, was ich glaube?«
Neunzehn Augenpaare fixieren mich erwartungsvoll.
»Ich glaube, Thimo ist jetzt ein Engel, und dieser Thimo-Engel hat an dem Tag Geburtstag, an dem Thimo gestorben ist. Vorgestern hat der Thimo-Engel Geburtstag gehabt, und ich würde gern mit euch gemeinsam den Engelsgeburtstag von Thimo feiern.«
Im Kindergarten ist es üblich, dass an Geburtstagen jedes Kind dem Geburtstagskind etwas wünscht. So wollen wir es auch für den Thimo-Engel machen. Doch was wünscht man einem Engel?
Die Kinderköpfe rauchen vor Anstrengung. Zögern und Unsicherheit werden spürbar.
Gern würde ich jetzt die Gedanken der Kinder lesen. Denken sie in kindlichem Pragmatismus über nützliche Wünsche für einen Engel nach?
Braucht Thimo vielleicht einen ganzen Berg Schokolade? Die hat er doch immer so gern gegessen, und jetzt bekommt er bestimmt keine schlechten Zähne mehr davon. Soll man
ihm viel Glück wünschen? Er ist doch bestimmt glücklich, dort, wo er ist.
Viele Kinder wünschen dem Geburtstagskind das, was sie selbst gern hätten. So auch jetzt? Beginnen die Kinder, die größeren vielleicht, zu begreifen, dass sie eines Tages selbst ganz plötzlich und unerwartet als Engel auf einer Wolke sitzen könnten, unsichtbar für ihre Freunde?
Ich weiß es nicht. Vielleicht sind ihre Gedanken ja viel banaler.
Die Stille ist anstrengend. Zum ersten Mal am heutigen Tag steht etwas wie Betroffenheit im Raum.
Wir teilen Wünsche aus. Wie immer. Wir denken nach. Wie immer. Doch etwas ist anders als sonst. Ganz anders. Das Geburtstagskind ist nicht da.
Reihum werden die Kinder gebeten, ihren Wunsch für Thimo auszusprechen. Ich bin den Kindergärtnerinnen dankbar. Sie halten am Ritual fest, obwohl es den Kindern sichtlich schwerfällt. Die Wünsche werden von Nelli auf Kärtchen notiert.
Viel Gold. Viel Spielzeug. Viel Schokolade. Viel Glück.
Dass du viel Spaß beim Spielen mit deiner Schwester hast. Dass du bei deinem Papu bist.
Als alle Wünsche ausgesprochen sind, gehen wir in den Garten. Ich habe eine Flasche mit Helium und Luftballons mitgebracht, jedes Kind darf sein Wunschkärtchen an einen Ballon binden. Nach einem gemeinsamen Countdown lassen wir die Luftballons alle gleichzeitig steigen. Glücklich blicke ich ihnen nach.
Die Ballonwolke ändert ständig ihre Form, während sie in den Himmel fliegt. Zu Beginn sehe ich sie noch ganz
deutlich, nach einer Weile fällt es mir immer schwerer, sie zu erkennen. Irgendwann ist sie für meine Augen nicht mehr sichtbar, obwohl es unmöglich ist, den genauen Moment zu bestimmen, in dem sie verschwunden ist. Ich kann sie nicht mehr sehen, weil meine Augen dazu nicht in der Lage sind. Und doch weiß ich: Die Ballons sind noch da.
Wie vieles gibt es wohl noch, abgesehen von bunten Ballons, das da irgendwo zwischen sichtbar und unsichtbar durch den Himmel schwebt, allgegenwärtig und nur deshalb nicht erkennbar, weil meine Sinne nicht dafür ausgebildet sind, es wahrzunehmen?
Es ist elf Uhr. Jausenzeit.
Wie an jedem Geburtstag gibt es etwas Süßes. Maria, die zweite Kindergärtnerin, hat Schokoladentorte mitgebracht. Uns allen scheint klar, wo das unsichtbare Geburtstagskind sich jetzt aufhält. An seinem Platz. Vor seinem Teller, auf dem das größte Kuchenstück liegt. Wo sonst?
Ich sitze neben dem unsichtbaren Engel. Als ich meinen Teller geleert habe, ziehe ich das große Geburtstagskuchenstück zu mir herüber.
»Ich stelle mir gern vor, dass Thimo jetzt ein Teil von mir ist. Also esse ich nun seine Torte, damit er spürt, wie es mir schmeckt. So hat auch er etwas davon.«
Die Kinder füttern mich liebevoll. Ihre
Weitere Kostenlose Bücher