Vier minus drei
Spaß bei meinem Spiel, das könnt ihr mir glauben.
Wollt ihr mir glauben, dass selbst mein letztes Scheitern, mein Tod, letztlich nichts anderes ist als eine Illusion? Zugegeben, diese Illusion ist gut, sehr gelungen, vielleicht habe ich noch nie so eindrucksvoll gespielt. Doch am Ende des Theaterabends werde ich mich verbeugen, und ihr werdet alle merken: In Wirklichkeit ist mir nichts, aber auch gar nichts passiert.«
Vielleicht war Helis Körper die letzte Maske, die er ablegte. Vielleicht ist der Schauspieler, der in diesem Leben die Rolle des Heli spielte, hinter die Bühne getreten, weil sein Text für dieses Mal zu Ende war. Er hatte Spaß beim Spielen und wartet jetzt hinter dem Vorhang. Ich sitze im Publikum und weine, traurig angesichts der Illusion seines Todes. Irgendwann aber, dessen bin ich sicher, werde ich ihn wiedersehen und wissen: Es geht ihm gut. Nichts ist ihm passiert. Gar nichts.
Aber noch ist es nicht soweit. Das Stück ist noch nicht zu Ende. Noch gibt es keinen Applaus, nicht einmal für die Musiker mit den roten Nasen, die so berührend gespielt haben.
Auf dem Vorplatz bekommt jeder einen heliumgefüllten Luftballon in die Hand gedrückt.
Zehn, neun, acht, sieben …
Bei Null fliegt die Ballonwolke in den Himmel. Ein kleiner Bub will seinen Ballon nicht loslassen. Er weint. Die Mutter gibt nach, darüber bin ich froh.
Lange sehe ich den Ballons nach, wieder einmal, bis ich sie kaum mehr erkenne. Plötzlich ein Zupfen am Zipfel meines Kleides. Amira, eine Freundin meines Sohnes. Sie drückt mir ein selbstgemaltes Bild in die Hand. Auf der Rückseite lese ich ihre wichtige Botschaft, in der wackeligen Schrift einer Sechsjährigen.
LIEBE BABARA. ICH WIL, TASTU NICHT WAINST WAIL TI WALENTINA GESTORBEN IST UNT TER HELI UNT TER TIMO. ENTE. TAINE AMIRA.
Gerne würde ich lachen. Wenn es nicht so traurig wäre.
»Danke, Amira. Ich werde probieren, fröhlich zu sein, so oft es geht. Das verspreche ich dir. Weißt du, ich bin immer wieder sehr traurig. Aber ich bin auch froh, weil ich eine so schöne und lange Zeit mit Thimo, Heli und Fini erleben durfte.«
Amira nickt lebhaft.
»Na also! Weißt du, meine Oma will mir das einfach nicht glauben, dass du FROH bist!«
Was mag sich bei Amira zu Hause abgespielt haben, bevor sie mit ihrer Familie heute hierherkam? Vielleicht war es so, am großen Tisch in der Bauernstube, beim Abendbrot:
»Mama, das ist schlimm, dass Barbaras Familie gestorben ist, gell?«
»Ja, Amira, sehr schlimm.«
»Wird die Barbara jetzt nur noch weinen?«
»Na ja, ist sie bestimmt sehr, sehr traurig.«
»Aber ich will nicht, dass sie nur noch weint. Sie ist doch ein Clown!«
»Ich glaube, die Barbara wird irgendwann wieder fröhlich. Ich glaube, sie weiß, dass ihre Kinder jetzt Engel sind und sie begleiten. Das hat sie in ihrem Brief geschrieben.«
»Aha. Das macht sie sicher froh, wenn sie die Engel begleiten. Ist Heli auch ein Engel?«
»Ja, bestimmt.«
»Werde ich auch einmal ein Engel, wenn ich sterbe?«
»Ja, Amira. Du bist ja jetzt schon mein liebster Engel.«
Am nächsten Tag kam vielleicht Amiras Oma zu Besuch und wurde gleich mit der Nachricht begrüßt, die für Amira noch immer die Sensation des Tages war.
»Oma, stell dir vor, Barbaras ganze Familie ist gestorben! Aber mach dir keine Sorgen, sie ist froh, weil ihre Kinder jetzt Engel sind.«
Die Oma hat wohl den Kopf geschüttelt vor Entsetzen.
»Das ist ja schrecklich! Amira, sag doch nicht, dass sie froh ist! Nein, ich glaube, wenn einem so etwas passiert, kann man nie wieder froh sein.«
Missverständnisse sind vorprogrammiert, wenn man dem Tod anders begegnet als in schwarzer Kleidung und mit verzweifeltem Gesicht.
Indem ich bewusst einen helleren, leichteren Weg wählte, habe ich offenbar so manche Tabuzone betreten, habe ich Menschen vor den Kopf gestoßen in ihrem Glauben darüber, wie die Welt, die menschliche Psyche und die Trauer um Tote zu funktionieren haben.
»So kann man doch nicht trauern«, urteilten einige wenige.
»Warte nur, das große Loch kommt schon noch«, meinten viele andere.
»Du kannst bald zu mir kommen und mit mir spielen.«
So sieht es Amira. Sie winkt und verschwindet gleich darauf in der Menge, um ihre Schwester zu suchen.
Ich sehe der Kleinen nach, dankbar für ihre Lebendigkeit und ihren kindlichen Pragmatismus. Unentschlossen trete ich nach draußen und schleiche mich in die Clownsgarderobe,
auf der Suche nach ein bisschen
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