Vier minus drei
Weihwasser. Ein Gebet.
Draußen platzen Luftballons. Das Mikrophon fällt aus, jemand ruft »Lauter!«, Kinder fangen an zu quengeln. Ich erwache langsam aus meiner Trance, nehme wahr, dass einer meiner Clownkollegen aufsteht und zu singen beginnt. War das so geplant? Ich weiß es nicht mehr, aber das Lied ist schön. Schön traurig.
»Some say love, it is a river …«
Immer mehr Clowns erheben sich und stimmen ein. Ich kann nicht mitsingen, meine Kehle ist wie zugeschnürt.
Barbara weint , das wäre nun eigentlich ein wichtiger Punkt auf der Agenda gewesen. Aber meine Augen bleiben trocken, auch jetzt. Meine Trauer entzieht sich jedem Plan.
Mit dem nächsten Lied erfüllen mir die Clowns einen Herzenswunsch: »Fly me to the moon«.
Ich habe diesen Song am Tag des Unfalls zum ersten Mal in meinem Leben gehört, gesungen von Helge Schneider. Das Lied lief im Autoradio, frühmorgens, an jenem Tag, als der Unfall passierte.
Aus irgendeinem Grund brannten sich Worte und Melodie damals in mein Gedächtnis ein. Das Lied, dessen Text
von Sternen handelt, vom Fliegen und von der Liebe sollte mich in den folgenden Tagen nicht mehr loslassen.
Beständig summte ich es an Thimos Krankenbett vor mich hin, sang es leise und manchmal sogar laut. Melodien habe ich mir immer schon gut gemerkt, doch, erstaunlich, ich konnte mich sogar an den gesamten Text erinnern, lückenlos!
Es schien mir so, als hätte mir Thimo dieses Lied als Abschiedgeschenk geschickt, um mir Mut zu machen und mir einen Hinweis darauf zu geben, wo er in Zukunft zu finden sein würde. Während ich seine Hand hielt und sang, schien es mir, als ob Thimo durch das Lied zu mir spräche.
Fly me to the moon
and let me play among the stars.
Let me see what spring is like
on Jupiter and Mars.
In other words: Hold my hand,
in other words: Darling, kiss me.
Fill my heart with song
and let me sing forever more,
you are all I long for,
all I worship and adore.
In other words: Please, be true,
in other words: I love you.
Bart Howard
Heute noch verbinde ich dieses Lied mit meinem kleinen Sohn, wann immer ich es höre. In dreiunddreißig Jahren meines Lebens war es mir niemals untergekommen – bis zu dem Tag, an dem meine Familie verunglückte. Seither begegnet es mir in regelmäßigen Abständen, immer wieder:
Ich gehe zu einem Vorsingen für ein Kindermusical und stelle fest, dass fünf von zwanzig Bewerbern »Fly me to the moon« als Vortragslied ausgewählt haben.
Ich höre den Song auf der Straße, gepfiffen von einem Passanten, gerade als ich intensiv an Thimo denke und mich frage, ob ich wohl eine gute Mutter war.
Ein Clownkollege improvisiert bei einem Workshop auf der Gitarre. Er kündigt ein Lied an und singt meinen, Thimos Song. Er kann die Gitarrengriffe nicht und scheitert kläglich. Wir lachen. Nach der Improvisation entschuldigt er sich:
»Ich weiß nicht, warum mir genau dieses Lied eingefallen ist, ich kenne es eigentlich kaum.«
Ich klopfe ihm auf die Schulter. Ich weiß, woher es kam.
Thimo ist erfinderisch und überrascht mich immer wieder mit seinem Gruß.
Auch jetzt, in der Aufbahrungshalle, habe ich das Gefühl, dass Thimo neben mir steht. Bei der zweiten Strophe kommt meine Stimme wieder. Ich singe mit, laut und frei.
Die Clowns beenden ihr Spiel und damit den offiziellen Teil der Feier. Beim Betrachten der seltsamen Truppe, die da vor Helis Sarg steht, meine ich für einen kurzen Moment, Zuschauer bei einem Theaterstück zu sein.
Ein Clownbegräbnis.
Clowns überall. Im Publikum. Vorn auf der Bühne. An den Instrumenten.
Sogar im Sarg ein Clown.
Wäre dies hier eine Inszenierung, wie würde das Stück weitergehen? Was hätten die Clowns zum Thema Tod zu sagen? Würde der Regisseur des Stückes den einen, der im Sarg liegt, zu Wort kommen lassen? Was hätte er zu erzählen?
»Oh, so viele Blumen! So schönes Bettzeug! Und ich werde auf Schultern getragen, bin ich jetzt ein König?«
Die Zuschauer würden lachen.
Wäre das Stück ein modernes Theaterstück, könnte es sein, dass irgendwann der Schauspieler aus seiner Rolle tritt, seine rote Nase abnimmt und eine kleine Ansprache hält:
»Liebes Publikum, liebe Freunde! Ihr habt mein Clownsleben lang über meine Missgeschicke gelacht. Habt euch amüsiert über mein Stolpern, meine Unfälle, mein Scheitern. Ihr lachtet, weil ihr wusstet, dass alles nur gespielt ist. Ich habe mich nie verletzt und bin nie wirklich gescheitert, und auch ich hatte großen
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