Vier minus drei
ungeschickt.
»Hilf mir doch, Heli!«
Heli. Wahrscheinlich hört er mich sogar, aber was soll er denn machen? Ein Engel kann keine Axt halten, leider.
In der Küche klingelt mein Handy. Ein willkommener Grund, alles stehen und liegen zu lassen. Es ist Georg.
Mein Finanzberater, ein alter Freund der Familie. Er möchte einen Termin vereinbaren, am besten für morgen.
»Weißt du, wie man einen Ofen anzündet?«, überfalle ich ihn. »Ich habe nur ein Holzscheit, keine Späne, nichts. Aber es ist so kalt!«
Beim Seelenfest hatte mir Georg seine Hilfe angeboten.
Wann immer du etwas brauchst, werde ich da sein.
Jetzt ist es soweit. Ich brauche Hilfe, ja. Und nehme auch den Telefonjoker dankbar in Anspruch.
»Glaubst du, dass ich es schaffen kann?«
»Klar. Hast du Zeitungspapier?«
»Jede Menge.«
»Wunderbar.«
Wunderbar. Das klingt gut.
»Du musst sehen, dass genug warme Luft ins Ofenrohr kommt. Dann könntest du es schaffen, dass das Holz auch ohne Späne brennt. Mach eine Fackel aus Zeitungspapier und halte sie in den Abzug.«
Das schaffe ich. Fackel. Feuer. Aber wie komme ich bloß an den Abzug?
Meine Hand verschwindet im Ofen. Die Fackel erlischt. »Nur Mut!«, spornt mich Georg an.
Die Küche ist verqualmt, meine Hand kohlrabenschwarz.
»Es klappt nicht.«
»Morgen komme ich zu dir.«
Oh ja! Kannst du Reis mitbringen?
Noch ehe ich die Frage laut ausspreche, kommt sie mir schon blöd vor. Kann ich meinen Finanzberater etwa um Naturalien bitten?
Im Badezimmer wasche ich meine Hände. Ein Blick in den Spiegel, was sehe ich da?
Graue Nase, schwarze Stirn – ich sehe ja aus wie ein Schornsteinfeger!
»Heli!«, seufze ich, lachend und weinend zugleich. Gähnen muss ich auch. Endlich Zeit, ins Bett zu gehen, auch ohne Abendessen.
Morgen, gleich in der Früh, gehe ich Kekse kaufen.
Der nächste Tag, mittags
Mein hungriger Bauch hat mich zu Anna getrieben.
»Jeden Tag um zwei steht bei mir zu Hause ein Mittagessen auf dem Tisch, für die ganze Familie. Jeden Tag koche ich so viel, dass auch ein Esser mehr noch satt würde. Komm zu uns, wann immer du willst, von mir aus ein ganzes Jahr lang. Du musst nicht einmal vorher anrufen.«
So hat es mir Anna schon am Tag des Seelenfestes offeriert. Anna, die Liebe. Die Praktische. Die Sorgende.
Nach meinem Misserfolgserlebnis von gestern schien mir dieses Angebot unwiderstehlich. Ich bin einfach bei Anna hereingeschneit und fühle mich willkommen. Das Essen schmeckt wunderbar. Ich fühle mich gesättigt. Genährt.
Bald darauf jedoch starte ich schon wieder mein Auto. Ich halte es noch nicht lange aus in Gesellschaft. Will lieber wieder nach Hause fahren.
Doch während ich noch winke, ändere ich kurzentschlossen den Plan.
Ich will den Bahnübergang sehen, an dem der Unfall passiert ist. Jetzt. Ich will die Schienen überqueren. Einmal hin, einmal zurück.
Ich will es schaffen. Muss mir beweisen, dass ich keine Angst habe, vor nichts. Versuche, Momente zu sammeln, in denen ich stark und unerschrocken bin, und sie in meinem Innersten zu horten. Als Munition, mit der ich das große schwarze Loch schon in die Flucht schlagen werde, falls es mich einholt.
Das Essen hat mich mutig gemacht. Nach drei Minuten bin ich am Ziel. Was wird jetzt geschehen? Vergebens warte ich auf ein besonderes Gefühl. Da sind keine unsteten Geister, die in mein Auto huschen wollen. Kein kalter Schauer läuft mir über den Rücken. Keine Tränen. Kein scharfes Abbremsen. Kein Schrei. Ich fühle mich fast teilnahmslos.
Komisch. Hier war es doch, wo Geschichte geschrieben wurde – wenn auch nur meine ganz persönliche Geschichte. Wieso sieht der Platz bloß so normal aus, so unscheinbar?
Immerhin, da stehen ein paar Blumensträuße auf der Wiese neben den Gleisen. Drei Friedhofskerzen – immerhin! – flackern im Gras.
Etwas ungeschickt parke ich mein Auto am Straßenrand und steige aus. Ich nehme das Gelände unter die Lupe, als
wäre ich eine Reporterin. Oder ein Detektiv. Alles, nur nicht die Frau, deren Mann hier zerfetzt vorgefunden wurde. Vor genau drei Wochen.
Hier hat also der zertrümmerte Clownbus gelegen, auf dem Dach, ja, da liegen ja noch die Splitter.
Hier wurde Thimo wiederbelebt, hier starb Heli.
Hier lag Fini und wimmerte. Ohne Mama.
Hier. Wo die Kerzen brennen und ein Ast in der Erde steckt, verziert mit roten Schaumstoffnasen. Ich lege mich ins Gras. Ich werde nass. Es ist mir egal.
Meine Taubheit wandelt sich in ein Gefühl der
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