Vier minus drei
Weibchen abgegeben haben. In meinem Bau verkrochen, scheu und doch dankbar für jeden Korb Äpfel, den man mir brachte. In alten Märchen liest man oft von solchen Gestalten. Meistens sind sie alt und sehr, sehr hungrig.
Hungrig war auch ich. Mein Körper war schwach. Wenn ich darüber nachdachte, was ich meinem leeren Magen Gutes tun könnte, fiel mir nur eine einzige Speise ein.
Reis.
Immerhin. Doch der Gedanke an die Zubereitung entmutigte mich schon im selben Moment.
Wasser aufstellen. Warten. Öl erhitzen. Warten. Die Zutaten mischen. Wieder warten …
Nein, das war alles viel zu aufwendig.
Lieber blieb ich in meinem warmen Nest und wartete auf …, tja, auf was? Auf bessere Tage vielleicht. Auf eine zündende Idee. Oder auf die nächste Schüssel Kekse.
Plante ich insgeheim, zu verhungern? Wollte ich mich in Luft auflösen, um meiner Familie nachzufolgen? Diese Frage stellte ich mir gelegentlich. Ich konnte sie nicht eindeutig beantworten.
Möglicherweise war es so. Natürlich schien es mir verlockend, zu sterben. Dass meine Familie gleich hinter dem Vorhang auf mich warten würde, daran glaubte ich felsenfest. Auf meinem Nachtkästchen lagen sieben Bücher, die allesamt vom Leben nach dem Tod handelten. Von Nahtoderlebnissen. Vom großen Licht. Von Familienangehörigen, die den Verstorbenen nach dem Tod in Empfang nehmen. Von unbeschreiblichem Glück.
In den Büchern fand ich allerdings auch Kapitel über Selbstmord. Sie enthielten Botschaften, die verschiedene Trance-Medien von Selbstmördern empfangen haben. Die Verfasser stellten es so dar, als käme man nach einem Selbstmord nicht direkt in den »Himmel«.
Ich konnte diese Annahme nachvollziehen.
Nein, an die Hölle glaube ich nicht. Schon gar nicht an Bestrafung. Aber an Schuldgefühle und Verzweiflung, an
die glaube ich sehr wohl. Gefühle, die als Rucksack mitgenommen werden nach drüben und die den Weg ins Licht beschwerlich machen könnten.
Was also, wenn ich nach meinem Tod in ein anderes Land, auf eine andere Straße käme als Heli und die Kinder? Das Risiko wollte ich um keinen Preis eingehen.
Ich sterbe schließlich nur einmal. Da will ich schon die richtige Tür erwischen. Diejenige, die sicher zu meiner Familie führt.
Ab und zu nahm ich das Handy zur Hand, mit dem Vorsatz, eine SMS zu schreiben, an irgendwen.
Bring mir bitte etwas zu essen, aber geh gleich wieder. Frag mich nur bitte nicht, wie es mir geht.
Doch noch bevor ich zu tippen begann, legte ich den Apparat schon wieder zur Seite.
Alles viel zu anstrengend, es geht schon noch eine Weile ohne Essen .
Ich sinnierte darüber, ob es als Selbstmord zu werten wäre, wenn ich einfach liegen bliebe, bis ich sterben würde. Den Sog nach »drüben« empfand ich mitunter so stark, dass ich mir um mich selbst Sorgen machte. Gleichzeitig beruhigte mich meine innere Stimme – meine treue, kluge, nur scheinbar außenstehende Beobachterin:
Solange du dir noch Sorgen um dich selbst machst, ist dein Lebenswille noch vorhanden. Du kannst dich entspannen. Du wirst dich nicht aus Versehen umbringen. Alles wird gut.
Ich bemühte mich, ihr zu glauben. Wenn meine Gedanken doch einmal zu trübe wurden, erinnerte mich die weise
Stimme in meinem Kopf daran, was mir am Tag vor Finis Tod bei einem Spaziergang im Krankenhausgelände klargeworden war. Und erinnerte mich selbst an die grundlegende Erkenntnis:
Der 23. März 2008, Ostersonntag
Ich bin am Ende. Seit Stunden stehe ich heute schon an Finis Bett und feuere sie an. Halte meine volle Konzentration auf ihr Überleben fokussiert. Keine Sekunde habe ich gewagt, von ihrer Seite zu weichen.
Wenn ich loslasse, geht sie …
»Sie sollten sich ein wenig entspannen.«
Der Arzt, der auf seine Weise seit drei Tagen um Finis Leben kämpft, macht sich Sorgen um mich.
»Sie müssen neue Kraft schöpfen. Sonst können Sie doch auch Ihrer Tochter keine Kraft schenken.«
Er bemerkt den Zweifel in meinem Blick.
»Gehen Sie spazieren. Sie müssen nicht hier stehen, um Ihrer Tochter nah zu sein. Finis Seele ist immer bei Ihnen, ganz egal, wo Sie sind.«
Diese Worte sind Medizin für mein Herz.
Er hat Recht. Er muss Recht haben. Komm, Fini, wir gehen spazieren.
Als ich durch den Wald schlendere, der die Klinik umgibt, spreche ich laut mit meiner Tochter.
»Wenn du wieder gesund bist, dann werde ich mit dir in den Wald gehen. Wir werden Erdbeeren pflücken. Und Regenwürmer anschauen. Schau, auf diese Bank werden
wir uns
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