Vier minus drei
Schwerelosigkeit. Um mich herum wird es ganz hell. Ein Lichtkegel hüllt mich ein, kommt er vielleicht vom Himmel?
Klar, woher denn sonst? Wenigstens auf den Himmel ist Verlass, wenn schon nicht auf meine Gefühle.
Denn ergriffen bin ich nicht. Ich genieße bloß die Wärme des Lichts. Es erscheint mir logisch, dass an der Stelle, an der Heli gestorben ist, die Tür zum Himmel offen steht.
Während ich so in die unendliche Weite über mir blicke, fallen mir die Filme von Mr. Bean ein, die Thimo so gern im Fernsehen gesehen hat, zusammen mit Heli und mir, eine Schüssel Popcorn auf dem Schoß. In der Anfangssequenz sieht man stets einen Lichtkegel, der von oben herab auf eine einsame Gasse fällt. Dazu ertönt sphärische Musik. Mr. Bean purzelt von oben herab. Aus dem Himmel? Aus einem UFO? Man sieht, wie er unsanft auf dem Boden landet, verdattert aufsteht, um sich blickt. Was tut einer, der gerade in der Welt gelandet ist und nicht weiß, was er hier soll? Er putzt sich die Hose ab. Und geht. Die Straße entlang. Dem Abenteuer entgegen.
Nun liege ich also hier im Gras, inmitten eines Lichtkegels. Und Heli?
An diesem Platz ist er nach oben gepurzelt, in den Himmel. Wie Mr. Bean, nur in die Gegenrichtung .
Die Vorstellung von Helis abrupter Himmelfahrt gefällt mir.
Eine Freundin hat mir neulich in ihrem Brief einen Traum nacherzählt, den sie in der Nacht vor dem Seelenfest hatte:
Da war ein riesiges Fest im Freien. Es waren viele Menschen dort, auch Kinder, alle haben gefeiert und gelacht. Heli hat das Fest veranstaltet und als Höhepunkt auf einer Bühne sein »Projekt« enthüllt: mehrere Raketen, mit denen er sich und andere Clowns zum Himmel schießen wollte. Und seine eigene Rakete war einfach zum Schreien komisch: eine langgezogene, große, ockergrüne Plastikbirne ….
War Heli ebenso verdattert wie Mr. Bean, als er plötzlich in einer anderen Welt landete? Welche Abenteuer warten da oben wohl auf ihn? Ich meine, Heli zu sehen, wie er mir von oben, von einem Platz gleich hinter der blauen Leinwand der Himmelsdecke aus, zuzwinkert.
Gar nicht so schlecht hier oben, Weibserl!
Heli Eberhart! Jetzt weiß ich also, wo ich dich sicher finden kann. Falls ich dich jemals verloren glaube.
Ein Auto bremst und bleibt stehen. Eine Autotür wird geöffnet, zugeschlagen. Schritte.
»Ist Ihnen schlecht? Brauchen Sie Hilfe?«
Ich setze mich auf und schüttle nur stumm den Kopf. Verlegen rapple ich mich hoch, putze meine Hose ab. Und fahre nach Hause.
Noch oft führte mich mein Weg über die Gleise, vorbei an den Kerzen im Gras, die immer wieder neu entzündet wurden, ich weiß nicht, von wem. Wann immer ich Zeit hatte, blieb ich stehen und legte mich ein wenig ins Gras, um die Verbindung zwischen Himmel und Erde mit jeder Faser meines Körpers zu spüren.
Irgendwann, im Gras liegend, wurde mir klar, dass sich das, was ich heute bin, nicht mit dem Wort trotzdem beschreiben lässt. Nein, ich trotze nicht. Nicht obwohl meine Familie starb, bin ich heute die, die ich bin. Nicht ungeachtet , sondern in Achtung meines Schicksals. Nicht trotzdem , sondern auch und gerade weil. Auch und gerade weil meine Familie vorausging, in den Zustand, den ich Himmel nenne.
Eines Tages gab es dort eine große Überraschung. Ich bog gerade um die Kurve, die zum Bahnübergang führt, und war mit meinen Gedanken bei Heli und den Kindern. Als mein Blick auf das Stromhäuschen neben den Schienen fiel, wollte ich meinen Augen nicht trauen. Vor lauter Schreck vollführte ich unwillkürlich eine Vollbremsung, die den Motor abwürgte.
Hatte ich eine Halluzination? Oder hatte der Himmel doch endlich gelernt, seine Botschaften in großen Lettern an Hauswände zu schreiben? Mannshohe, graue Buchstaben:
SEI MUTIG.
Helis Traumbotschaft!
Ein Hirngespinst? Nein, die Worte zieren noch heute das Stromhäuschen am Bahnübergang Takern. Jeder, der den Bahnübergang überquert, liest Helis Botschaft. Nicht einmal die Polizei nahm bisher Anstoß an dem symbolträchtigen Graffiti.
Wer es an die Wand malte? Ich brauchte ein wenig, um es herauszufinden. Lieber Freund, ich danke dir. Hier und jetzt. Jemand wie du weiß um die Kraft, die in Worten stecken kann. Du Querdenker. Du mutiger Revolutionär des Alltäglichen. Du Freund.
Der 11. April 2008
Wieder einmal liege ich im Bett und grüble.
Die Tage im Krankenhaus haben Spuren hinterlassen. Spuren der Verklärung, ja, fast möchte ich sagen: der Entrückung. Ich hatte dem Tod ins
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