Vier minus drei
trat die Wut von außen an mich heran, in verschiedener Gestalt.
Helis Stellvertreter bei der Aufstellung.
Helis Familie.
Freunde.
Irgendwann wurde ich schließlich selbst wütend. Zunächst auf mich. Auf all die Versäumnisse und Fehler, die ich meiner Meinung nach auf mich geladen hatte, als gestresste Mutter, als unvollkommene Ehefrau.
Die Wut übertrug sich auch auf andere.
Fremden Frauen im Supermarkt, die ihre Kinder anbrüllten, weil sie an der Kasse Schokolade haben wollten, hätte ich am liebsten ins Geicht geschrien:
»Wissen Sie eigentlich, wie froh Sie sein können, dass Sie überhaupt noch ein Kind haben?! Würden Sie ihm die Schokolade auch verbieten, wenn Sie wüssten, dass Ihr Kind morgen unter einem Zug begraben liegt?!«
Zänkereien zwischen Liebenden konnte ich fast nicht ertragen.
Könnt ihr euch nicht – bitte! – einfach sagen, dass ihr euch liebt?!
Am liebsten hätte ich mich auf eine Kanzel gestellt und gedonnert:
»Jeder Moment ist kostbar! Jeder Augenblick kann der letzte sein! Liebt! Lobt! Schenkt! Seid gut zueinander!«
Viel, viel später lernte ich schließlich, mir einzugestehen, dass ich auch auf Heli ein ganz klein wenig wütend bin. Manchmal. Dann, wenn es gerade besonders wehtut.
Ich habe mir aber auch schon früher oft Gedanken über die Wut gemacht. Lange hegte ich bereits den Verdacht, dass sich hinter der Wut meistens Schmerz versteckt hält. Ein Schmerz, der keine Tränen findet, keine Erleichterung, weil er einfach zu groß ist.
Gerade nach Todesfällen kommt es häufig zu schrecklichen Auseinandersetzungen unter den Hinterbliebenen. Vielleicht deshalb, weil hier ebenfalls die Wut einspringt, stellvertretend für einen Schmerz, der noch nicht gefühlt werden will oder kann?
Anders als der Schmerz, dem man scheinbar hilflos ausgeliefert ist, bietet die Wut einen größeren Handlungsspielraum. Man kann schreien. Schimpfen. Böse Briefe schreiben. Das tut gut, bringt vorläufig Erleichterung.
Doch gegen wen soll man die Wut richten?
Gegen den Toten? Nein, er ist unantastbar. Er hat nichts als Liebe verdient. Die Liebe ist das Band, das Tote und Lebende zusammenhält. Es ist zu zart, zu fragil, als dass man es in Gefahr bringen möchte. Außerdem schickt es sich nicht, auf Tote wütend zu sein. De mortuis nihil nisi bene.
Gegen das Schicksal? Das geht immer. Doch leider hat das Schicksal kein Telefon, nicht einmal eine Adresse. Die Wut verlangt nach einem konkreten Ziel. Sie will einen Gegner haben. Das Schicksal taugt nicht recht zum Kontrahenten, unsichtbar und stumm, wie es eben ist.
Die Wut sucht weiter. Und wird fündig.
Als wäre es ein ungeschriebenes Gesetz, kommt es im Zuge von Begräbnisvorbereitungen und Erbverhandlungen immer wieder zu Pannen und Missverständnissen. Eine ganze Familie muss gemeinsam mit einer Situation fertig werden, die jeden Einzelnen allein schon heftig überfordert. Streit ist vorprogrammiert. Der Schmerz, der sich als Wut verkleidet, legt eine Lupe auf jede kleine Unstimmigkeit. Nur zu leicht wird die Lupe zum Brennglas und richtet dauerhafte Schäden an.
Ich habe keine Antwort darauf, wie man als Gruppe von Trauernden gemeinsam durch einen Schmerz gehen kann, der für jeden anders ist und in unterschiedlichem Tempo verläuft. Wie man einander gut bleiben kann in Zeiten, in denen man einander vielleicht gar nicht gut tut , weil der eine den Schmerz des anderen verstärkt oder scheinbar missachtet.
Auch in meiner nahen Umgebung gab die Wut ein Gastspiel. Es gab heftige Auseinandersetzungen. Tränen. Vorwürfe. Nur eines, so meine ich, gab es nicht: einen Schuldigen.
Bist du sicher?
So fragt mich die Stimme in meinem Kopf.
Hast du nicht heute noch ein schlechtes Gewissen, weil du Helis Familie verletzt hast?
»Liebe Stimme, du weißt, dass ich es nicht mit Absicht getan habe.«
Das ist keine ausreichende Entschuldigung. Du hast Helis Besitztümer unter deinen Freunden verteilt, ohne seiner Familie Bescheid zu sagen. Helis Urne hast du bei dir zu
Hause aufgestellt und damit seinen Eltern die Möglichkeit genommen, um ihn zu trauern, wie sie es wollten und wie es seit langer Zeit gepflegt wird: auf dem Friedhof. Du hast sie nicht einmal gefragt, wie sie sich das Begräbnis wünschen. Wunderst du dich wirklich darüber, dass sie bis heute nicht mit dir sprechen?
»Nein, ich wundere mich nicht. Du weißt, dass es mir mehr als unangenehm ist, wie egoistisch ich nach dem Tod meiner Familie war.«
Dachtest du
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