Vier minus drei
hinzugehen, sie zu treffen. Die meisten von ihnen sehe ich zum ersten Mal seit dem Seelenfest. Wie haben sie wohl die letzten Tage verbracht? Was hat sich draußen in der Welt getan, so ohne mich? Denken meine Freunde auch manchmal noch an Heli, nun, da er seit fast einem Monat tot ist, oder beschäftigen sie schon wieder ganz andere Dinge?
Hannah, die Supervisorin, eröffnet die Sitzung mit dem immer gleichen Ritual.
»Welche Themen habt ihr heute mitgebracht? Worüber möchtet ihr sprechen?«
Jeder kommt an die Reihe, jeder darf aussprechen, was ihn beschäftigt, reihum.
Hannah weiß über den Unfall Bescheid. Sie weiß, dass heute eine Ausnahmesituation herrscht. Dennoch hält sie am Ritual fest. Darüber bin ich froh. Ich möchte ohnehin nicht, dass es drei Stunden lang nur um mich geht.
Mein Kollege Arthur meldet sich als Erster. Schon bei den ersten Worten steigen ihm Tränen in die Augen.
»Helis Tod war für mich ein schwerer Schlag. Er war ein Kollege, ein Freund. Und er hat das Gleiche gemacht wie ich, ist in einem Bus durch die Lande gefahren, als Clown. Der Clown im Bus hätte genauso gut ich sein können. Mir ist klar geworden, wie plötzlich das Leben zu Ende sein kann. Wie dünn die Fäden sind, an denen wir hängen. Das tut sehr weh.«
Das ist neu.
Wie oft habe ich seit dem Unfall gehört, dass die Menschen mit mir fühlen. Mit mir traurig sind. An mich denken. Aber hier sitzt einer meiner Kollegen, ein Freund, der nicht mit mir weint, nicht um mich . Er selbst hat Kummer wegen Heli. Helis Tod war ein Schicksalsschlag für ihn!
Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Dass es andere Menschen gibt, die um Heli trauern. Dass auch sie Schmerz empfinden. Dass es nicht nur um mich geht bei der ganzen Sache.
Ein Teil in mir versucht sich noch gegen diese Erkenntnis zu wehren. Will sich festklammern am Thron der alleinig Leidenden, ist es doch die einzige Rolle, die ich momentan bravourös zu erfüllen verstehe. Ehe ich der Leidenskönigin gut zureden kann, erfolgt schon die nächste Wortmeldung.
»Unsere Arbeit im Krankenhaus ist momentan sehr anstrengend.«
Meine Kollegin Sophie.
»Die Schwestern, die Ärzte, ja sogar die Eltern, alle fragen uns nach Barbara. Ich spiele als Clown mit einem Kind, lache über Seifenblasen, singe ein Lied, und immer wieder zieht mich irgendjemand am Ärmel und flüstert mit Grabesstimme: ›Wie geht es denn Ihrer Kollegin? Schrecklich, was da passiert ist …‹ Sie meinen es alle gut. Aber wie soll ich da als Clown noch lustig sein?«
Wie bitte? Obwohl ich still und stumm zu Hause im Bett liege, bin ich für meine Kollegen zum Problem geworden? Das ist allerdings schrecklich!
»Ich könnte ja einen Brief an alle Stationen schreiben. Erzählen, wie es mir geht.«
Wie komme ich denn auf diese Idee? Einen Brief schreiben? Wie es mir geht? Genau vor dieser Auskunft drücke ich mich doch, wo es nur geht.
»Ja, vielleicht wäre das gut.«
Sophie nickt dankbar.
Oh je.
»Erzähl doch. Wie geht es dir denn?«
Hannah hat mir das Wort erteilt.
Also gut. Hier, im geschützten Raum, wo es nicht nötig ist, mich bei der Antwort zwischen dem unglaubwürdigen »Gut« und dem unvollständigen »Schlecht« zu entscheiden, will ich versuchen, laut zu denken. Und mir selbst einen Überblick über meine Situation verschaffen.
»Es ist eigenartig. Ich kann nichts anderes sagen, als dass es mir gut geht, und weiß doch, dass das eigenartig
klingt. Irgendwie habe ich das Gefühl, als ob ich in einer Blase über der Erde schweben würde, in der es friedlich und schön ist. So lange ich in dieser Blase sitze, ist alles in Ordnung. Ich habe aber Angst, wieder auf die Erde zurückzukommen.«
»Danke, dass du gekommen bist«.
Mein Kollege Moritz steht abrupt auf und umarmt mich stürmisch.
»Man malt sich ja allerlei aus. Die Fantasie ist grenzenlos. Es tut so gut, dich einfach hier sitzen zu sehen.«
»Ja, danke!«, schließen sich Eva und Maria, die letzten in der Runde, an.
»Barbara, möchtest du eine Aufstellung machen und sehen, wie du wieder ins Leben finden kannst?«
Eine Aufstellung. Ist es jetzt also so weit? Muss ich Heli anschreien? Werde ich hier meine Wut finden?
Wann, wenn nicht jetzt?, ermuntert mich mein mentaler Coach, die Stimme im Kopf.
Nun denn.
»Ja, ich will es gern versuchen.«
Ich suche Stellvertreter für mich und meine Familie aus. Führe sie an einen Platz, der mir passend erscheint.
Heli und die Kinder am Fenster. Ich auf der anderen
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