Vier minus drei
Seite des Raumes. So war es damals, im Zug, in meiner Fantasie. Es fühlt sich auch jetzt richtig an.
Meine Stellvertreterin bekommt zwei weitere Personen an die Seite.
Ihre Lebenskraft. Und ihre Seele.
Der Seele geht es wunderbar:
»Ich kann frei hin und her wandern. Das gefällt mir. Aber mein Platz ist hier, bei Barbara. Nicht bei den Toten.«
Hannah fragt die anderen Stellvertreter, wie es ihnen geht. Ich darf am Rand Platz nehmen und zusehen.
Fein. Wenn hier jemand wütend werden muss, bin es wenigstens nicht ich. Es ist nur meine Stellvertreterin, die im Gegensatz zu mir keine Angst haben muss, dass die Engel davonflattern, wenn sie schreit.
Fini ist an der Reihe. Die Stellvertreterin schaut recht zufrieden drein.
»Es geht mir ganz toll! Von hier habe ich einen wunderbaren Überblick, alles ist hell und schön.«
»Ich schau meiner Mama jetzt zu, und es ist cool. Wie Fernsehen, aber viel spannender!«
Sehe ich da Thimos schelmischen Blick, während sein Stellvertreter spricht?
Hannah wendet sich an mich:
»Die Indianer erzählen sich über ihre Ahnen ganz ähnliche Dinge. Sie stellen sich vor, wie die Verstorbenen von oben auf die Erde hinunterschauen und das amüsante Programm genießen.«
Das ist schön. Fernsehen war Thimos Lieblingsbeschäftigung.
Mein Schatz! Ich werde alles tun, damit das Programm schön spannend für dich bleibt!
Helis Stellvertreter wirkt angespannt.
»Ich weiß nicht, irgendetwas stimmt hier nicht.«
»Wir werden sehen.«
Hannah möchte zuerst alle Beteiligten befragen, bevor sie in die Tiefe geht. Sie wendet sich meiner Stellvertreterin zu.
»Wie geht es dir?«
»Eigentlich ganz gut.«
Kein Wutausbruch? Keine Tränen? Gott sei Dank!
»Ich möchte, dass Heli weiß, wie sehr ich ihn liebe. Er hat keine Schuld. Ich bin ihm nicht böse.«
Ja, so sehe ich das auch.
»Kannst du das annehmen?«
Hannah stellt sich neben Helis Stellvertreter, der mittlerweile zu zittern begonnen hat. Sein Mund ist verkrampft, die Lippen beben.
»Nein, das passt mir überhaupt nicht. Es macht mich so wütend, wenn alle so tun, als hätte ich keine Schuld. Natürlich habe ich es nicht absichtlich gemacht, aber ICH BIN SCHULD an dem, was passiert ist!«
Seine Augen funkeln wütend, seine Stimme ist laut geworden.
»ICH HABE NICHT AUFGEPASST! Deshalb ist der Unfall passiert. Ich werde nicht zulassen, dass irgendjemand mir meine Schuld wegnimmt! Sie gehört mir!«
Während der letzten Sätze haben sich seine Augen mit Tränen gefüllt, und nun schluchzt er bitterlich:
»Gebt mir meine Schuld, ich will sie nehmen.«
Er ist nicht der Einzige, der weint. Meine Stellvertreterin bittet um ein Taschentuch, sie vergießt die Tränen, die ich momentan nicht zustande bringe. Ich bin berührt. Überrascht. Ergriffen.
Heli will seine Schuld zurückhaben. Wer sind wir schon, wir kleinen Menschen, dass wir uns anmaßen, die Größe eines Ereignisses zu beurteilen? Vielleicht hat Heli ja Weichen für zukünftige Ereignisse gestellt, von denen bislang
nur die Engel im Himmel etwas wissen? Werde ich eines Tages den tieferen Sinn erkennen dürfen, der hinter der Tragödie liegt?
Heli, du sollst deine Schuld haben. Deine Verantwortung. Ich sehe dich in der Rolle, die du übernommen hast. Der Schuldige. Der die Wut abbekommt. Eine undankbare Rolle in einem großen Spiel.
Die Aufstellung findet schließlich ein gutes Ende. Meine Stellvertreterin gibt Heli seine Schuld zurück, in Form eines unförmigen, schweren Steines. Ich darf mich zuletzt an ihren, meinen Platz stellen und mich mit meiner Lebenskraft verbinden.
Meine Seele, die mich andauernd umarmen will, bitte ich, ein wenig Abstand zu halten.
»Es ist gut, dass du da bist, aber die Lebenskraft ist mir jetzt wichtiger. Mit ihr macht es mehr Spaß.«
Die Wut ist eine unberechenbare Größe. Sie erwischt uns gern auf dem falschen Fuß. Sie kommt, wenn wir nicht mit ihr rechnen. Dann allerdings fordert sie unsere volle Aufmerksamkeit.
Ich habe immer danach getrachtet, ein friedlicher Mensch zu sein. Habe mich in gewaltfreier Kommunikation geübt, in Verständnis und Toleranz. Das ging meistens ganz gut. Typisch für mich, dass ich mich nach dem Tod meiner Familie allen Gefühlen stellen wollte, nur
nicht der Wut. Typisch für das Leben, dass es mich mit der Wut konfrontierte.
Während ich in mir den Frieden suchte und mir niemals zugestanden hätte, wütend zu sein – auf Heli, das Schicksal oder gar auf irgendjemand in meiner Umgebung -,
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