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Vier minus drei

Titel: Vier minus drei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Pachl-Eberhart
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eigenes Tempo wählen. Andere Abzweigungen nehmen, andere Um- und Irrwege ausprobieren.
    Sollte ich noch einmal ein Seelenfest ausrichten, würde ich dieser Tatsache in irgendeiner Weise Tribut zollen. Vielleicht würde ich einen Pakt mit allen Anwesenden schließen:
    »Wir treffen uns als Freunde, wenn wir unseren Weg durch den Schmerz gefunden haben. Vielleicht auch früher, dann allerdings ohne Erwartungen und ohne Garantie auf Erfolg. Wenn wir unterwegs etwas brauchen, liegt es an uns, es auszusprechen. Wir erwarten von niemandem, dass er unsere Gedanken liest.«
    Vielleicht wäre es einfacher, wenn der Weg durch die Trauer für alle gleich verliefe. Wenn wir im Gleichschritt dahinmarschieren würden und jeder Schritt, jede Gefühlsregung vorhersehbar wäre.

    Vielleicht. Und doch ist es andererseits gut so, wie es ist. Verworren, unberechenbar, herausfordernd. Denn auf diese Weise können wir lernen, jeden einzelnen Weg, jeden Menschen, der mit uns oder neben uns trauert, in jedem Moment neu anzuschauen und Menschen nach ihren Bedürfnissen zu fragen, ohne sie schon im Voraus in eine Schublade zu stecken.
    Ich weiß nicht, was du brauchst. Ich bin dennoch da und lasse mich davon überraschen, was ich dir heute geben darf. Vielleicht läuft sogar alles anders als erwartet, und ich darf bemerken, dass du mir etwas gibst. Mir, die ich dachte, helfen zu können. Auch für diese Erfahrung will ich offen sein. Lass uns sehen, was unser Zusammensein uns heute schenkt.
    »Wäre es nicht schön, wenn wir jedem Menschen so begegnen könnten – egal, ob er trauert oder nicht? Was meinst du, liebe Stimme?«
    Ja, das wäre schön. Ein Idealzustand. Der Himmel auf Erden. Erstrebenswert, aber kaum zu erreichen. Wir sind eben Menschen und machen Fehler.
    »Das weiß ich selbst nur zu gut. Es lässt sich nicht vermeiden.«

    Aus meinem Tagebuch
    28.4.2008
    Ich glaube, der Schmerz, den man empfindet, wenn ein Mensch stirbt, ist ähnlich groß wie die Summe aller Schmerzen, die man diesem Menschen zu Lebzeiten zugefügt hat. Es dauert lange, bis dieser Schmerz verblasst, wenn man nicht mehr die Chance hat, zu sagen: ›Es tut mir leid‹.
    Freitag, der 16. Mai 2008, elf Uhr
     
    Eine Stunde bei Elisabeth, meiner Therapeutin. Thimos Therapeutin, eigentlich. Zumindest hatten Heli und ich sie vor einem Jahr für unseren Sohn ausgesucht.
    Thimo war so dünn und zerbrechlich, gleichzeitig unruhig und süchtig nach Süßigkeiten. Elisabeth sollte sich darum kümmern. Gekümmert hat sie sich schließlich um Heli und um mich, einzeln und als Paar. Thimo wurde trotzdem mit jeder Stunde ruhiger. Mit jeder Stunde, die seine Eltern in Elisabeths Praxis verbrachten.
    Nun sitze ich wieder bei Elisabeth. Allein. Zuletzt haben wir uns beim Seelenfest gesehen, heute bin ich da, weil ich dringend ihre Hilfe brauche. Ich kann zurzeit nämlich nicht gut an Thimo denken. Es tut zu weh.
    Wann immer ich mir Thimo vergegenwärtige, fühle ich, wie seine Liebe über mich hereinbricht, so groß, so unendlich groß. Ich bin ihr nicht gewachsen, dieser Liebe. Sie
füllt mich aus, sprengt meine Grenzen und zerreißt mir dabei das Herz.
    Ich habe diese Liebe nicht verdient . Ich bin es nicht wert, so geliebt zu werden. Ich war keine gute Mutter. Ich habe zu viele Fehler gemacht. Ich brauche Thimo hier auf Erden, damit er mir verzeihen kann.
    »Wieso meinst du, dass du keine gute Mutter warst?«, fragt Elisabeth.
    »Ich muss dir etwas Furchtbares erzählen.«
    Elisabeth reicht mir vorsorglich eine Packung Taschentücher und lehnt sich zurück, um mir zuzuhören.
    »Irgendwann vor ein paar Monaten waren wir alle gemeinsam im Auto unterwegs. Thimo hat auf der Fahrt mit meinem Lieblingskuli gespielt, obwohl ich ihm das streng verboten hatte. Der Stift ist ihm runtergefallen und war plötzlich unauffindbar.
    Es tat ihm so schrecklich leid, dem kleinen Kerl, aber ich konnte mich trotzdem nicht überwinden, zu sagen: ›Das macht nichts.‹
    Ich war traurig wegen dieses Kulis und habe ihn das ordentlich spüren lassen. Thimo hat mir sein ganzes Taschengeld angeboten, aber den Kuli hatte ich in Holland gekauft, der war nicht wiederzubekommen. Ich habe mich damals auf diese Trauer, mit der ich ihn strafen oder ›erziehen‹ wollte, so richtig draufgesetzt und Thimo in seiner Hilflosigkeit einfach stehen lassen.
    Und jetzt kommt das Schlimmste:
    Kurz nach Thimos Tod fand ich den Kuli. Er war zu Hause hinter ein Kästchen gerutscht. Der Stift, der damals im Auto

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