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Vier minus drei

Titel: Vier minus drei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Pachl-Eberhart
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wirklich in keinem Moment an Helis Angehörige?
    »Nein.«
    Wie kann das sein?
    »Liebe Stimme, ich weiß es nicht. Darf ich mein Trauma, darf ich den Schock vorschieben, als Entschuldigung und Erklärung? Die Tatsache, dass jeder Gedanke in mir nur dem einen Ziel diente, das Geschehene zu verkraften und den Glauben an mein Leben nicht zu verlieren?«
    Eine Erklärung ist das schon. Über Schuld und Entschuldigung werden wir uns allerdings noch zu unterhalten haben. Später.
     
    In meiner Not klammerte ich mich ans Hier und Jetzt. Ebenso wahr ist: Ich klammerte mich an mich selbst und an jedes meiner noch so kleinen Bedürfnisse. Meine Welt drehte sich um mich und mein Überleben, für etwas anderes fand ich keinen Platz in meinem Kopf.
    Wenn ich zurückblicke, scheint es mir so, als wäre ich auf einer stark schwankenden, gefährlichen Hängebrücke unterwegs gewesen:

    Der Steig führt über eine tiefe Schlucht, in der Krokodile lauern. Die Tiere geben heisere Laute von sich, die sich in meinen Ohren zu Worten formen wie Einsamkeit , Verzweiflung oder Zusammenbruch .
    Schritt für Schritt taste ich mich vorwärts. Blicke weder nach rechts noch nach links und schon gar nicht nach unten. Das Einzige, was zählt, ist der nächste Schritt. Immer wieder. Der nächste Schritt.
    Wenn mir die Kraft ausgeht, richte ich meine Aufmerksamkeit auf das weiche Moos, das auf den Brettern wächst, auf das Zwitschern der Vögel und den Geruch der frischen Luft. Über mir scheint warm die Sonne. Ab und zu halte ich inne und lasse mich von ihren Strahlen streicheln. Zum Weinen nehme ich mir keine Zeit. Nur kein Risiko eingehen, den Blick nicht mit Tränen trüben. Ein Sturz wäre fatal.
    In höchster Konzentration setze ich einen Fuß vor den anderen. Beginne dabei, ein Liedchen zu summen, und merke, dass es mir hilft. Versuche ein Lächeln und stelle fest, dass es meinen Schritt beschleunigt. Erreiche endlich die andere Seite. Drüben warten Menschen auf mich. Sie freuen sich mit mir, sie applaudieren und schießen Fotos. Ich werde als Heldin gefeiert.
    Abends am Lagerfeuer setzt sich ein Kind neben mich. Es ist weizenblond, sieht ähnlich aus wie Thimo oder wie der kleine Prinz von Saint-Exupéry – da gibt es fast keinen Unterschied.
    »Warum hast du den Fuchs nicht gegrüßt, der hinter dir ging?«, will der Junge wissen. »Warum hast du dem Vogel, der hungrig neben dir flog und doch so schön sang,
nichts von deinem Brot gegeben? Und … warum hast du mir nicht gewunken, als ich dich rief?«
    »Liebes Kind, weißt du denn nicht, wie schwierig es ist, auf einer Hängebrücke zu balancieren?«
    »Ich gehe oft über eine Hängebrücke in meinem Dorf. Sie ist zwischen zwei Bäumen aufgespannt, und es macht allen Kindern Spaß, auf ihr zu spielen.«
    Das Kind sieht mich erwartungsvoll an.
    »Unter meiner Hängebrücke war ein tiefer Abgrund, und es lauerten Krokodile.«
    »Wie gut, dass der Abgrund so tief war. So konnten dich die Krokodile wenigstens nicht ins Bein beißen. Erklärst du mir jetzt, warum du mir nicht gewunken hast?«
    »Weil ich Angst hatte.«
    »Wenn ich Angst habe, schaue ich mich immer um, wo meine Mama ist. Sie winkt mir und hilft mir. Du hättest nur zu uns hinüberschauen müssen, dann wäre deine Angst gleich kleiner geworden.«
    Ich weiß nichts mehr zu erwidern und schweige lieber still.
     
    Es sollte viel Zeit vergehen, bis ich wieder an andere denken konnte. Wochen, Monate.
    Dabei blieb es nicht aus, dass ich Menschen kränkte. Einige schwankten selbst auf einer Hängebrücke und hätten mein Winken gebraucht und meinen Gruß, um besser mit ihrer Angst fertig zu werden. Andere standen am Rand der Schlucht und hatten schwere Seile und Haken angeschleppt in der festen Überzeugung, dass ich sie brauchen würde. Sie waren enttäuscht darüber, dass ich ihre Hilfe nicht annahm.

    Der Weg durch den Schmerz ist eine einsame Reise, die, wenn überhaupt, nur ausgewählte Begleitung zulässt. Ich war mitunter überrascht davon, wer sich als hilfreich und angenehm erwies und wer nicht. Neue Freunde tauchten auf, scheinbar aus dem Nichts, mit passenden Worten auf den Lippen und einer Ausstrahlung, die mir wohltat. Einige alte Freunde hingegen kamen mit mir nicht mehr zurecht. Oder ich mit ihnen? Wir wussten es nicht, stellten nur betrübt fest, dass wir einander im Augenblick nicht guttaten. Insbesondere, wenn sie Heli sehr nahegestanden hatten, mussten manche Menschen ihren eigenen Trauerpfad beschreiten. Ihr

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