Vier minus drei
tut das weh, und nach und nach lernt es, sich zu schützen. Es macht »zu«. Aber es erinnert sich an das, was wehtut. Und wenn dann jemand uns eine solche Liebe schenken will, wie wir sie einst in unserem Herzen trugen, tut es umso mehr weh.
Thimo.
Es ist schwer zu verstehen, dass du, der du so voller Liebe bist, mir genau damit manchmal so wehgetan hast.
Nein, nicht du hast mir wehgetan. Sondern die Tatsache, dass meine eigene Liebe sich hinter Angst und Zweifeln versteckt hat, und ich es durch dich bemerkt habe.
Ich wünsche mir so sehr, dass du diese Zeilen liest und hörst und dass deine Seele sie verstehen kann.
Ich wollte dir nie wehtun und wenn ich es getan habe, tut es mir unendlich leid. Du kannst nichts für den Schmerz in mir, der mich dir manchmal wehtun ließ. Du hast mir die Möglichkeit gegeben, diesen Schmerz überhaupt erst einmal zu
spüren, und erst dadurch kann ich ihn anschauen und vielleicht sogar heilen. Das könnte ich nicht, wenn du mir nicht dabei geholfen hättest. Thimo, ich bin dir so dankbar. Du hast eine sehr große Aufgabe auf dich genommen, deine Mama im Innersten zu heilen und deinen Papu gleich dazu. Du große Seele!
Hörst du meinen Dank?
Ich habe dich unendlich lieb, du Kind der unendlichen Liebe.
Thimo, du fehlst mir sehr!
Deine Mama
Immer wieder habe ich Briefe an Thimo geschrieben. Ebenso an Fini. Ich habe sogar einen E-Mail-Account eingerichtet, auf Thimos und Finis Namen. Als Postadresse gab ich bei der Anmeldung »Im Himmel« ein, was mein Computer leider nicht akzeptierte.
So wohnen Thimo und Fini nun, meinem Computer zuliebe, im »Himmelweg 8« und bekommen dorthin meine elektronische Post geliefert, mit der immer gleichen Unterschrift:
Eure Mama .
Komisch. An Heli habe ich fast nie geschrieben, höchstens ein paar Zeilen im Tagebuch.
Warum?
Vielleicht, weil ich nie aufgehört habe, mit Heli zu sprechen . Helis Stimme, die Wahl seiner Worte, sein Dialekt und seine Späße sind mir fast so vertraut wie meine eigene Sprache.
Meine Stimme und die meines Mannes befinden sich in ständigem Dialog miteinander. Wenn ich ihm etwas erzählen möchte, spreche ich es laut aus. Fast so, als würde er neben mir stehen. Gelegentlich haben wir richtig Spaß miteinander. Heli ist mein zweites Ich geworden, ein humorvolles Ich, das die Welt nicht immer so ernst nimmt. Das sich lustig macht über dies und jenes. Das mit den Schultern zuckt, wenn es etwas nicht versteht, und sich daran erinnert, dass darüber die Welt nicht untergeht.
»Alte, scheiß dir nix!«
Wie oft hat Heli mich so aufgemuntert, wenn ich mir wieder einmal Sorgen machte oder Probleme wälzte! Heli, ich nehme dich ernst in all deinem Humor. Ich höre dir zu, ich lerne von dir.
Ich scheiß mir nix.
Wann immer es geht.
Lebenspost
Im März 2009, Spurensuche
Briefe nach dem Unfall , so steht es auf der großen Schachtel, die ich aus dem Regal gezogen habe. Ihr Inhalt liegt großflächig über den Teppichboden ausgebreitet. Mehr als dreihundert Papierbögen, Karten, Billets, ausgedruckte Mails in buntem Durcheinander. Beileidschreiben, selbstgemalte Bilder, gebastelte Präsente. Geschichten, Erinnerungen. Hilfsangebote. Briefe von Freunden und Fremden. Von Menschen, die sich getröstet und in ihrem Glauben bestärkt fühlten durch die Worte, mit denen ich versucht hatte, das Unfassbare zu beschreiben und begreifbar zu machen. So viele nahmen Anteil an meinem Schicksal.
»Es gibt keine passenden Worte.«
Viele Briefe beginnen so oder so ähnlich. Wieder einmal danke ich den Schreibenden in Gedanken dafür, dass sie zumindest diese Worte gefunden haben.
Wochenlang füllte sich mein Briefkasten in der Zeit nach dem Unfall mit immer neuen Kuverts, fast so, als würde er aus einem magischen Füllhorn gespeist. Das sorgsame
Öffnen der Umschläge wurde zum täglichen Ritual. Ich las langsam, niemals zwei Briefe hintereinander, verteilte die Lektüre über den Tag. Freitags hob ich mir ein paar verschlossene Kuverts auf, damit das Wochenende nicht zu lang würde.
Zwischen den Briefen lugten immer wieder gelbe Zettel hervor, Postbenachrichtigungen mit der freudigen Botschaft:
Ein Paket wartet auf dich!
Die Beamten auf der Post kannten mich schon und begrüßten mich jedes Mal mit freundlich-aufmunternden Worten.
»Na, heute ist wohl schon wieder der Weihnachtsmann vorbeigeflogen, mal sehen, was er gebracht hat.«
Es schien mir so, als würde der Geburtstag, den ich abgesagt hatte,
Weitere Kostenlose Bücher