Vier Tage im November: Mein Kampfeinsatz in Afghanistan (German Edition)
Rechtfertigung herhalten. Schau dir die Welt doch an. Es geht immer nur um Macht. Und Kontrolle, von beiden Seiten. Die Bibel ist doch ’n gutes Beispiel. Zweitausend Jahre stille Post. Und zweitausend Jahre ham die konsequent alles rausgestrichen, was unbequem war. Und das, was übrig blieb, soll Gottes Wort sein? Der einzige Unterschied von Jesus und Mohammed zu den Tausenden anderen Wanderpredigern war, dass sie es geschafft haben, so viele Menschen zu überzeugen, sagte ich erregt.
Muli unterbrach mich. Wir führen doch gerade kein Gespräch über Sinn und Unsinn von Religion, sagte er beruhigend. Also, was ist wirklich los?
Ich atmete heftig, beruhigte mich nur langsam. Nach einer Weile fand ich meine Sprache wieder.
Ach, ich weiß auch nicht. Dieser Angriff neulich nachts, das schwere Gefecht. Ich hab versucht, mit meiner Freundin darüber zu reden. Aber sie will nichts mehr über die Kämpfe hören. Dabei wollte ich von Anfang an ehrlich sein und ihr alles erzählen, entgegnete ich trotzig.
Es entstand eine Pause, bevor Muli mir in die Augen sah.
Es ist verdammt schwer, die richtige Mischung zu finden, bemerkte er. Wenn du zu viel erzählst, ist es oft falsch; wenn du gar nichts erzählst, ist es auch nicht richtig. Überleg doch mal, was wir unseren Partnern zumuten. Die in der Regierung erzählen nicht, was im Einsatz abgeht, und sogar unsere eigene oberste Führung stößt offenbar an ihre Grenzen. Niemand sagt etwas Genaues oder Ehrliches. Alle ham Angst, einen auf den Deckel zu kriegen. Und wenn wir wieder nach Hause kommen, weiß keiner etwas mit uns anzufangen. Wir sind allein, haben nur die Kameraden, die das Gleiche erlebt haben. Wir sind ein geschlossener Kreis. Und einerseits grenzen wir diejenigen aus, die nicht das Gleiche erlebt haben, andererseits fordern wir Unterstützung. Das kann nur schwer gut gehen. Einer aus der zweiten Gruppe hat mir von den Problemen mit seiner Freundin erzählt. Ich glaub, die will mit ihm Schluss machen.
Muli trank einen Schluck und sah mich an. Er schien eine Weile zu brauchen, bevor er leise weitersprach.
Ich hab dir ja erzählt, dass meine Frau auch gerade im Einsatz ist. Drüben, in Mazar-e-Sharif. Ich muss jeden Tag so viel an sie denken. Sie ist mir so nah, viel näher als ihr euern Frauen seid. Aber ich kann auch nur mit ihr telefonieren. Und trotzdem hab ich großes Glück, weil sie die Probleme aus eigener Erfahrung kennt, wenn der Partner im Einsatz ist. Das ist schon ’n großer Vorteil.
Er machte eine Pause. In diesem Moment bekamen Mulis Augen einen seltsamen Ausdruck, so hatte ich ihn noch nie erlebt. Er holte tief Luft.
Aber du weißt ja, dass sie und ich in letzter Zeit große Probleme hatten. Wir sind beide nicht sicher, wie wir damit umgehen sollen. Das macht es noch viel schwerer für mich. Und trotzdem ist sie meine Frau.
Seine Stimme stockte wieder.
Ich habe sie geheiratet, weil ich sie über alles liebe. Ich kann nur einmal im Leben diese Verpflichtung eingehen. Dieses heilige Versprechen. Es gibt nur einmal die eine Frau im Leben. Und sie ist es.
Er sagte das mit bebender Stimme, umklammerte die Red-Bull-Dose, schien sie zerquetschen zu wollen. Sah mich fast hilflos an. Es war eine Seite, die ich gar nicht an ihm kannte. In diesem Moment wusste ich nicht, wie ich reagieren sollte. Wusste nicht, ob er erwartete, dass ich etwas erwiderte.
Ich fühl mich so wohl mit euch, begann Muli wieder. Seine Stimme hatte sich beruhigt. Ich hab meine Kameraden, ich liebe meine Arbeit. Aber sie ist meine Frau. Es gibt für mich nur die Treue zu meinem Land, zu meinen Kameraden und zu der Frau, die ich geheiratet habe.
Er sah mich energisch an. Nach einer Weile legte ich meine Hand auf seine Schulter und erhob meine Flasche.
Auf die Treue, sagte ich laut, und wir stießen mit Wasserflasche und Red-Bull-Dose darauf an.
Am nächsten Tag sollten wir Fahrzeuge aus Taloqan abholen und nach Kundus eskortieren. Nur die erste Gruppe und Mü wurden für die Taloqan-Fahrt eingeteilt, dazu ein Jammer. Das bedeutete zwei Stunden hin und zwei Stunden zurück, reine Fahrtzeit. Unsere Fahrzeuge ließen unseren freien Tag in einer Staubwolke zurück.
Nach der Rückkehr verkroch sich jeder in seinem Container, genoss die letzten freien Stunden vor der nächsten Raumverantwortung. Spätabends gab es wieder einen Raketenalarm. Raus aus dem Container, rüber in den Innenhof des Nachbargebäudes, warten. Ich lehnte an der Mauer und schloss die Augen. Als endlich
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