Vier Werte, die Kinder ein Leben lang tragen
bis ihre Eltern nach Hause kommen. Das klappt an sich wunderbar, doch mein Sohn hat in letzter Zeit eine starke Angst entwickelt, dass mir auf dem Heimweg etwas passieren könnte.
Es begann damit, dass der Zug mehrere Abende nacheinander Verspätung hatte. Von da an wollte er jeden Abend ganz genau mein Programm für den nächsten Tag wissen, und wenn der Zug jetzt auch nur fünf Minuten Verspätung hat, bricht er fast in Panik aus und lässt sich nur schwer wieder beruhigen. Dann tröste ich ihn so gut ich kann, doch scheint sich seine Angst eher zu verstärken als abzuschwächen. Ich habe jedoch auch Folgendes bemerkt: Wenn im Haus eines Freundes, bei dem er spielt, ein Erwachsener anwesend ist, hat er bedeutend weniger Angst. Ich komme seinem Bedürfnis nach, meinen Terminplan bis ins kleinste Detail zu kennen, und rufe ihn selbstverständlich sofort an, wenn ich weiß, dass ich mich verspäte, aber das hilft alles nicht. Was soll ich bloß tun?
Eine ratlose Mutter
Antwort von Jesper Juul:
Ihr Sohn gehört zu den vielen Menschen – großen wie kleinen –, die versuchen, ihre Angst durch Kontrolle zu bekämpfen. Das beseitigt zwar nicht seine Angst, gibt ihm aber das Gefühl, etwas zu tun. In diesem Fall will Ihr Sohn einen genauen Überblick über Ihren Arbeitstag haben, und dennoch wird seine Angst nicht kleiner.
Diese Kontrollreaktion beobachten wir hin und wieder vor allem bei Jungen, die nicht nur zum »Mann im Haus« ihrer Mutter wurden, sondern auch jeden bedeutungsvollen Kontakt zu ihrem Vater verloren haben (zumindest zeitweise). Daran, dass der älteste Sohn in gewisser Weise die Rolle des »Mannes im Haus« übernimmt, können weder Sie noch andere alleinerziehende Mütter viel ändern.
Kinder versuchen stets, nach Kräften das Vakuum zu füllen, das in Familien entsteht, in denen ein Erwachsener fehlt.
Wir beobachten dies auch in Familien, in denen der Vater über einen längeren Zeitraum abwesend ist, weil er zum Beispiel auf einer Bohrinsel arbeitet oder im Ausland stationiert ist. In diesen Familien kommt es in den Zeiten, in denen er zu Hause lebt, oft zu Konflikten, weil sich der Vater nicht mit der Konkurrenzsituation abfinden will und der Sohn nicht in der Lage ist, seine Rolle sofort wieder abzugeben, sobald sein Vater auf der Bildfläche erscheint.
Alle Kinder fühlen sich für das Wohlergehen ihrer Eltern verantwortlich, und dieses Gefühl ist bei den ältesten oft am stärksten ausgeprägt. Es provoziert und bekümmert uns nicht so sehr, wenn das älteste Kind ein Mädchen ist, weil sie »nur« zum verlängerten Arm und zur helfenden Hand ihrer Mutter wird. Wohnt sie hingegen allein mit ihrem Vater zusammen und wendet viel Energie auf, um sich um ihn zu kümmern oder die Rolle einer Art Partnerin einzunehmen, werden wir auch hier skeptisch.
Wir können nicht verhindern, dass Kinder die Verantwortung auf sich nehmen und in diese Rollen schlüpfen, doch wir können etwas sehr Wichtiges tun: Wir können damit aufhören, dies auszunutzen!
Das bedeutet vor allem, dass Sie sich als Mutter davor hüten sollten, Ihre Erwachsenenprobleme mit Ihrem Sohn zu teilen, statt mit anderen Erwachsenen darüber zu reden. Was auch bedeutet, dass Sie vorsichtig sein müssen, ihn dafür zu loben, dass er so »groß« und »tüchtig« ist. Auch Kosenamen wie »mein kleiner Mann« oder Ähnliches sollten tabu sein.
Das beste Gegenmittel, das wir kennen, ist, dafür zu sorgen, dass er massenhaft Zeit zum Spielen hat, allein und mit seinen Freunden, und sich darüber hinaus mit Dingen beschäftigen kann, die seinem Alter entsprechen. Und was besonders wichtig ist: dass Sie sein Verantwortungsbewusstsein anerkennen!
In der aktuellen Situation möchte ich vorschlagen, dass Sie (mit Ihren eigenen Worten) etwa Folgendes zu ihm sagen: »Ich habe begriffen, dass du dich sehr dafür verantwortlich fühlst, dass es mir gut geht. Darüber bin ich einerseits froh, auf der anderen Seite müssen wir aber beide aufpassen, dass die Belastung für dich nicht zu groß wird. Ich verstehe ja, dass du besorgt und ängstlich bist, wenn ich mich verspäte. Deshalb will ich dir natürlich sofort Bescheid sagen, wenn ich weiß, wie groß die Verspätung wird. Aber ich will dir nicht mein ganzes Tagesprogramm mitteilen, weil du dich dafür nicht verantwortlich fühlen sollst und weil das auch nicht dazu führt, dass du weniger Angst hast.« Das ist es, was er wirklich braucht, um seine Angst in den Griff zu
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