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Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard von Weizsäcker
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die sie vergessen machen wollte, jedem Auge sichtbar. Wäre es anders gewesen, hätte es der Mauer ja nicht bedurft.

    Auf einem Flug im Hubschrauber des Bundesgrenzschutzes an der innerdeutschen Grenze nahe bei Lübeck, 1988.
    Wann immer wir vom Westen her ausländische Gäste an die Sektorengrenze in der Stadtmitte führten, sahen sie selbst, was wir empfanden: Solange das Brandenburger Tor zu ist, bleibt die deutsche Frage offen. Nun hatte auch Honecker wachsende Schwierigkeiten, seinen Staatsgästen zu erklären, warum er sie zu einem Mauerbesuch einlud. Als er gegenüber dem sambischen Staatspräsidenten Kaunda die Mauer als ein Monument der sozialistischen Befreiung charakterisierte, äußerte dieser öffentlich gegenüber seinem Gastgeber sein tiefes Befremden über das abstoßende, menschenfeindliche Gebilde. Chruschtschow hatte schon gewußt, warum er frühzeitig die Mauer als ein häßliches,
wenn auch vorläufig unvermeidliches Ding bezeichnet hatte.
    Die Mauer sollte die Grenze sein. Sie trennte die Millionenstadt in ihrer Mitte. Aber die Mitte taugt nicht zur Grenze. Daß diese Mauer in der historischen Perspektive nicht von Bestand sein würde, war einfach nicht zu übersehen, auch ohne Kenntnis dessen, welche gesamtstaatlichen Folgen damit verbunden sein würden. Das war meine schlichte Botschaft und Mahnung aus Berlin an die Adresse vieler Zweifler im Westen. Es war nichts anderes als die Wiedergabe unseres unmittelbaren Lebensgefühls in der Hauptstadt. Wir brauchten untereinander keine Glaubenskriege zu führen; denn es war die Offenheit der deutschen Frage, die wir täglich erlebten. Immer deutlicher wurde unser Eindruck: Berlin verband die Deutschen mehr, als daß es sie trennte! Aller Mühsal zum Trotz war Berlin eine Quelle der Hoffnung.
    Bekanntlich hatte die Führung in Moskau und Ostberlin stets das Ziel verfolgt, aus Berlin-West eine sogenannte selbständige politische Einheit zu machen. Das entsprach zwar nicht dem Viermächteabkommen über Berlin. Dennoch mußten wir vom Westen her aufpassen, dieser östlichen Tendenz keine Nahrung zu geben. Mehrfach hatte mich der sowjetische Botschafter in der DDR, Abrassimow, zu einem Besuch nach Moskau eingeladen. Ich wollte gerne kommen, machte es aber zur Bedingung, daß ich in Moskau, wie jeder andere deutsche Politiker, von der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland betreut und begleitet würde, eben weil wir die These von der selbständigen politischen Einheit nicht akzeptierten. Die Folge war, daß ich nicht nach Moskau reisen konnte.
    Mit den Exponenten der DDR über das Grenzregime und Reiseerleichterungen aller Art zu sprechen, war dagegen eine Pflicht und Gewohnheit meiner Vorgänger und meines eigenen Berliner Senats. Um unseren Forderungen nach weiteren Verbesserungen für die Menschen den stärkstmöglichen Nachdruck
zu geben, entschloß ich mich im September 1983, den Generalsekretär der SED, Erich Honecker, in Ostberlin zu besuchen. Das hatte es bisher noch nie gegeben. Mancher Kommentator befürchtete, es würde die These von der selbständigen politischen Einheit stärken. Von einem Staatsminister im Bonner Auswärtigen Amt erhielt ich das längste Fernschreiben, das mich in meinem bisherigen Leben erreicht hat; es sollte mir das Risiko eines solchen Besuches vor Augen führen. Damit gab er aber meinem Schritt zuviel Ehre. Selbstverständlich wollte ich nicht, konnte aber auch gar nicht irgend etwas am Status ändern. Von meiner Besuchsabsicht informierte ich Kohl, der seit einem knappen Jahr Bundeskanzler war. Ferner besprach ich die Sache mit dem amerikanischen Gesandten in Berlin, der zu jener Zeit die drei Schutzmächte repräsentierte. Auch von ihm kamen keinerlei Bedenken.
    Unser Treffpunkt war das Schloß Niederschönhausen in Pankow. Dorthin hatte Friedrich der Große seine ungeliebte Frau, die Königin Elisabeth-Christine, verbannt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es von Wilhelm Pieck als Residenz des Präsidenten der DDR benutzt. Später war es Gästehaus, bis es nach der Wende den Runden Tisch für alle politischen Richtungen des Bezirks beherbergte.
    Es war meine erste Begegnung mit Honecker. Von dem Gefühl, in die Höhle des Löwen gekommen zu sein, war keine Spur, hätte ich nicht gewußt, wieviel Leid und Unrecht mit seiner Parteiherrschaft verbunden war. Welche persönlichen Eigenschaften ihn qualifiziert hatten, an die Spitze seines Systems vorzudringen, konnte ich nicht erraten. Er wirkte unpolemisch und nicht

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