Vier Zeiten - Erinnerungen
von beinahe jedem damaligen Besuch in Ost-Berlin. Als ich zum Beispiel dort zu einer kirchlichen Feier in die Hedwigs-Kathedrale fuhr, wo der Vorsitzende der Bischofskonferenz in der DDR, der großartige Kardinal Bengsch amtierte, wurde ich auf dem Weg buchstäblich fast erdrückt von den Gefühlen und Hoffnungen der herzlich laut grüßenden und rufenden Ost-Berliner.
Wieweit also muß man Realitäten akzeptieren, wo und wie ihnen die Stirn bieten? Es kann und darf nicht ohne den Idealismus und die Moral der Freiheit gehen. Den Idealismus aber darf man nur sich selbst abfordern, nicht jedoch anderen, die ihrerseits dafür den Preis bezahlen müssen, ohne daß man selbst mit bezahlt.
Noch einmal muß ich zum Doppelbeschluß der Nato zurückkehren. Die Stationierung von Cruise-Missiles und amerikanischen
Pershing-Raketen machte in mehreren Nato-Ländern des Kontinents erhebliche Schwierigkeiten. Der Weg zu ihren Stellungen mußte mit Polizeigewalt freigekämpft werden. Es erforderte Mut, öffentlich für diese Nachrüstung einzutreten. Selbst dort, wo eine Veranstaltung für sich beanspruchte, ein besonderes Maß an Toleranz und Sachlichkeit bei kontroversen Themen zu besitzen, wurde es hitzig. So habe ich zum Beispiel auf dem Podium in einer riesigen Halle mit über fünftausend Teilnehmern auf dem Evangelischen Kirchentag in Hamburg 1981 miterlebt, wie der sozialdemokratische Verteidigungsminister Hans Apel den Doppelbeschluß gegen einen Hagel von Eiern und Tomaten erklären und verteidigen mußte.
Von Berlin ging damals auch wieder mit ganz besonderem Nachdruck die Forderung aus, nicht nur eine Seite der Harmel-Doktrin zu befolgen, sondern alle beide. Die damit verbundene Spannung galt es durchzuhalten. Nach meinem Urteil war es ganz unausweichlich, den Erpressungsversuchen der Russen zu widerstehen. Denn so dringend notwendig die Entspannung war, so konnte sie uns vom Westen her nur gelingen, wenn wir bei den Kreml-Herren keinerlei Zweifel über unsere Entschlossenheit und Fähigkeit aufkommen ließen, uns zu schützen. Eben diese Fähigkeit wäre uns ohne Gegenmittel gegen ihre neuen Mittelstreckenraketen abhanden gekommen. Wir wären unglaubwürdig geworden.
Ebensowenig durfte ich von Berlin aus dafür eintreten, die immer noch zarte Pflanze der Entspannung wieder vertrocknen zu lassen. Auf bewegende Weise erlebte ich diesen Konflikt 1983 in der Lutherstadt Wittenberg. Es war der fünfhundertste Geburtstag des Reformators. Aufgrund einer kirchlichen Einladung an mich beriet das Politbüro der SED in einer Sitzung - viel Ehre für mich -, ob der Einladung entsprochen werden dürfe. Schließlich wurde mir erlaubt, dort in der Kirche und danach vor über zehntausend Deutschen aus der DDR auf dem Marktplatz Ansprachen zu halten. So etwas hatte es bis dahin
noch nicht gegeben. Es war der so oft zu Unrecht gescholtene Manfred Stolpe, der diesen wie andere Erfolge gegen die Herrschaft des real existierenden Sozialismus durchzusetzen wußte, in unserem gemeinsamen deutschen Interesse.
Einfach war es in Wittenberg durchaus nicht. Denn einerseits war es eine überwältigende Atmosphäre der Wärme und Zusammengehörigkeit der Menschen aus der DDR mit uns Gästen aus dem Westen. Zugleich ging es um harte Probleme. Nicht, daß wir gemeinsam den Frieden stärken wollten, war strittig. Nie wieder Krieg von deutschem Boden aus - über dieses Ziel waren wir uns vollkommen einig. Aber wie den Frieden erreichen? »Frieden schaffen ohne Waffen«, so stand es auf den Transparenten, und in Wittenberg hieß es darüber hinaus ganz biblisch »Schwerter zu Pflugscharen«. Im Hinterhof des Wittenberger Melanchthonhauses war ich selbst Zeuge, wie Pfarrer Schorlemmer am offenen Feuer ein Schwert in ein friedliches landwirtschaftliches Gerät umzuschmelzen sich bemühte. Seine Tendenz richtete sich primär gegen die Führung in der DDR. Denn diese hatte immer mit dem Blick auf die Nato den Frieden ohne westliche Waffen gefordert, zugleich jedoch im Bereich des Warschauer Paktes den bewaffneten Frieden propagiert. Aber die westliche Nachrüstung hatte Schorlemmer auch im Visier.
Meinerseits konnte und durfte ich nicht verschweigen, warum ich den Doppelbeschluß, also im Falle des Verbleibs der SS 20 auch diese Nachrüstung für unausweichlich hielt, eben weil Frieden nicht Unterwerfung bedeuten durfte. Es waren die engagiertesten und zugleich die fairsten Gespräche, die ich in jenen Jahren erlebte. Das Publikum in Wittenberg war
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