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Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard von Weizsäcker
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überdies weit disziplinierter als das auf dem Hamburger Kirchentag, was zugegebenermaßen unter den äußeren Bedingungen einer Diktatur ja auch leichter ist als im freiheitlichen demokratischen bellum omnium contra omnes. Auf dem Marktplatz schließlich ging es unter den Tausenden von Teilnehmern gar nicht mehr so sehr um Fragen der Rüstungen, sondern einfach nur um eine überwältigend
eindrucksvolle Bekundung des Gefühls der Zusammengehörigkeit.
    Zu jener Zeit waren wir Deutschen an allen Fronten um eine positive Entwicklung zwischen Ost und West bemüht. Da gab es eine bunte Mischung von Erfolgen und Rückschlägen. Der innerdeutsche Handel nahm zu. Die Autobahn Hamburg-Berlin wurde gebaut. Der Teltow-Kanal für die Schiffahrt nach Berlin wurde geöffnet, was den Transitweg entscheidend verkürzte. Es kam zu sparsamen, wenn auch noch immer völlig unzureichenden Entschärfungen im sogenannten Grenzregime an Mauer und Stacheldraht.
    Die finanziellen Gesamtleistungen aus Westdeutschland in die DDR waren im Westen zwar oft Gegenstand der Kritik, bekamen aber eine wachsende Bedeutung für die Wirtschaft und das Leben in der DDR. Der Gesamtbetrag war hoch genug, um eine für die SED unentbehrliche Plangröße zu werden, ein Faktor von qualitativ veränderndem Gewicht, ein politisches Instrument für den Westen und damit in Wahrheit ein verklammernder Faktor zwischen West und Ost. Franz Josef Strauß, der sich nach dem verlorenen Bundestagswahlkampf 1980 wieder ganz auf den Freistaat Bayern konzentrierte, begann bald, diesen verklammernden Effekt in seiner hilfreichen Bedeutung zu erkennen und sich aktiv am Kreditgeschäft mit der DDR zu beteiligen. Sein Kurswechsel wurde ihm zwar in der eigenen Heimat oft verübelt, hat uns in Deutschland aber nur genützt. Der Bedarf der DDR an Devisen, der auf solchen Wegen teilweise gedeckt wurde, hat das Leben der SED gewiß nicht verlängert. Uns ging es um Freizügigkeiten. Dafür Geld aufzuwenden war nicht fragwürdig, sondern geboten. Alle Regierungen, Kanzler und Kanzleramtsminister in Bonn haben sich mit Recht daran beteiligt. Wenn später oft vom obszönen Menschenhandel geredet wurde, so zeugt dies von einer stupenden Unkenntnis der damaligen politischen und ethischen Ziele im Westen.
    Ständig zählte es zu meinen Aufgaben, mich von Berlin aus
so aktiv wie möglich an der deutschlandpolitischen Meinungsbildung im ganzen Bundesgebiet zu beteiligen. Immer wieder ging es um den scheinbaren Widerspruch zwischen Frieden und Einheit. Es gab einige führende deutsche Politiker, die im Vorfeld des umstrittenen Nato-Doppelbeschlusses sowohl zu Hause als auch in Amerika erklärt hatten, das militärische Gleichgewicht zwischen Ost und West sei entscheidende Bedingung für den Frieden, zugleich sei das Gleichgewicht wesentliche Ursache dafür, daß die deutsche Teilung fortbestehe. Bei einer Debatte im Bundestag am 17. Juni 1980 fragte ich, was das denn heißen solle: Ob Friedenspolitik Teilungspolitik sei, ob Frieden und Teilung voneinander lebten? Ob denn ein Ungleichgewicht förderlich für die Einheit sei? Setze der sich dem Vorwurf aus, den Frieden zu gefährden, der eine Politik zur Überwindung der trennenden Gräben und Mauern unterstütze? Das sei ein gefährlicher Trugschluß.
    Natürlich waren auch wir Berliner keine Hellseher. Wir wußten sowenig wie unsere Bonner Kollegen, wie es anzustellen sei, ein sowjetisches Einverständnis zur staatlichen Einheit Deutschlands friedlich zu erringen. Aber wir hatten unseren täglichen Anschauungsunterricht mit der Teilung. Und ihn im Bundestag und in der ganzen deutschen Öffentlichkeit zur Sprache zu bringen, das war unsere Berliner Aufgabe: Wir lebten mit der Mauer, diesem Steinhaufen und Symbol der Teilung. Und wir konnten deutlich spüren, daß dieses Symbol mit seinem für die Menschen so leidvollen und schweren Unrecht dennoch von Tag zu Tag zu einer größeren Belastung für das östliche Regime wurde.
    Die Absicht ihrer Erbauer war es gewesen, die »Abstimmung mit den Füßen« durch Auswanderung nach Westen unmöglich zu machen und dadurch das eigene politische System zu stabilisieren. Die Bevölkerung der DDR sollte lernen, sich mit Teilung und Trennung abzufinden. Aber je länger die Mauer stand, desto deutlicher wurde erkennbar, daß sie ihr Ziel verfehlte. Gegen
ihre Absicht wurde sie der täglich frische Beweis, daß die Frage offen war, die sie abschließend beantworten sollte. Sie machte die Zusammengehörigkeit,

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