Vier Zeiten - Erinnerungen
in den Prinzipien und Kooperation in der Praxis, zwischen konkreten Schritten zugunsten der Deutschen in der DDR, die ohne Mitwirkung ihrer Machthaber nicht zu haben waren, und dem späteren Ziel der Einheit, auch wenn niemand wußte, wann und wie und ob es überhaupt erreichbar sein würde. Alle diese Themen gehörten zum wichtigsten Inhalt und Ziel meiner eigenen Tätigkeit in Berlin und meiner bundespolitischen Beiträge zum Thema Deutschland- und Ostpolitik, zumal bei gründlichen Aussprachen im deutschen Bundestag.
Erinnern wir uns noch einmal an die ebenso scharfsinnige wie umstrittene Dialektik von Egon Bahr. Es ging ihm um Wandel durch Annäherung. Eine künftige Destabilisierung des DDR-Regimes sei nur bei anfänglicher Stabilisierung zu erwarten. Eine temporäre Anerkennung des Status quo sei die Voraussetzung für seine allmähliche Überwindung. Leicht verständlich war das nicht, wohl aber risikoreich. War uns allen dabei klar, was für ein Status quo gemeint war? Die Grenzen, die Staaten, die Bündnisse? Oder auch die politischen und ideologischen Systeme? Nein, letztere doch gerade nicht. Vielmehr galt es, den sowjetischen Begriff einer »friedlichen Koexistenz« fortzuentwickeln zu einer systemöffnenden Koexistenz und am Ende zur Systemveränderung.
Gegenüber Polen waren solche Fragen noch relativ einfach zu beantworten. Polen, ja, das war ein Staat, und seine Grenzen einschließlich der Oder und Neiße hatten wir anzuerkennen. Sein System hingegen, zumal mit seinem gegen die Befreiungsbewegung
Solidarność erlassenen Kriegsrecht, hatten wir aber durchaus nicht zu akzeptieren.
Mit der DDR verhielt es sich komplizierter. Anders als die übrigen kommunistischen Parteien im Bereich des Warschauer Paktes hatte die SED ständig mit der Schwierigkeit zu kämpfen, daß es eine deutsche Alternative zu ihrer DDR in Gestalt der Bundesrepublik gab. Mit um so größerem Eifer hatte sie sich inzwischen von ihrem früheren Bekenntnis zu der einen, gemeinsamen deutschen Nation losgesagt. Zur Bekräftigung hatte sie sogar aus ihrer Hymne zwei Zeilen gestrichen, welche lauteten:
»Laß uns dir zum Guten dienen,
Deutschland, einig Vaterland.«
Später ging die SED-Führung weiter. Sie machte gar keinen Unterschied mehr zwischen ihrem Staat mit seinen Grenzen einerseits und ihrem politischen System andererseits. Bis in das Jahr 1989 hinein hielt sie an der These fest, ihre DDR sei nur als ein antifaschistischer, sozialistischer Staat denkbar, »als sozialistische Alternative zur BRD«, wie es der führende Parteiideologe der SED, Otto Reinhold, ausdrückte, und er fuhr fort: »Denn welche Berechtigung würde eine kapitalistische DDR neben einer kapitalistischen Bundesrepublik haben? Keine natürlich!« Die Botschaft an uns sollte also ganz eindeutig lauten: Wer an unserem System rüttelt, der rüttelt an unserem Staat.
Was für Konsequenzen sollten wir daraus im Westen ziehen? Wir wollten und wir brauchten die menschlichen Erleichterungen, die Reisen, Familienzusammenführungen, materielle Hilfen. Das konnten wir nicht vom Westen her erzwingen, wir mußten darüber mit Ost-Berlin verhandeln. Wir wußten und hatten es immer erprobt: Je gestörter das Verhandlungsklima zwischen den beiden Deutschlands, desto ergebnisloser die Gespräche. Sollten wir deshalb also der SED die Angst nehmen, wir wollten ihr System unterwandern? Führte das aber nicht zu
einer Stärkung des Systems, anstatt, wie geplant, zu seinem Wandel?
Fragen über Fragen. Trägt man allzu sorglos dazu bei, eine menschenrechtswidrige Herrschaft zu stabilisieren? Oder aber umgekehrt: Darf man von außen her das Recht einer diktatorisch unterdrückten und überwachten Bevölkerung auf Aufstand fördern, ja gar bei ihr einfordern?
Als Brandt 1970 auf dem Balkon vor dem überfüllten Bahnhofsplatz von Erfurt stand und die Menschen ihm voller Sehnsucht zujubelten, da blieb ihm nichts anderes übrig, als zu beschwichtigen, anstatt die Stimmung noch weiter anzuheizen. »Ich bin gleich wieder im freien Westen, sie nicht...«, sagte er zu einem Begleiter.
Eine große innere Bewegung und moralische Anstrengung ist es, sich in einer solchen Lage zurückzuhalten, die Gefühle zu beherrschen, sie zu erwidern, ohne sie durch Aufwiegelung zu gefährden, sich also quasi mit Zeichen zu verständigen. Meine eigenen Erlebnisse will ich in ihrer Bedeutung gewiß nicht mit jenen von Brandt auf eine Stufe stellen; die Empfindungen sind jedoch auch mir nahe vertraut
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