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Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard von Weizsäcker
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Berlin eine zentrale Rolle. So war es auch während meiner Jahre als Bürgermeister. An den Universitäten ging es relativ turbulent zu, jedoch ohne anhaltende Störungen des Betriebes. Vor der Wahl in mein Amt war ich einmal in das Auditorium maximum der Freien Universität zu einer deutschlandpolitischen Diskussion gekommen. Im völlig überfüllten Hörsaal kam es zu einem offenbar wohlvorbereiteten Tumult. Es entwickelte sich eine der merkwürdigsten Saalschlachten, die ich je erlebt habe. Fast ohne Lärm zu machen, versuchten größere Gruppen, sich gegenseitig durch die Türen hinauszuwälzen. Fünfundvierzig Minuten lang herrschte ein unbeschreibliches Gedränge und Geschiebe, ohne Argumente, mit roher körperlicher Kraft und doch fast ohne Verletzungen. Nur einem besonders tapferen akademischen Mitarbeiter von mir wurde durch einen Gegner beinahe der rechte Zeigefinger abgebissen. Schließlich waren rund hundert-fünfzig
Störer hinausgeworfen, und in den nächsten zwei Stunden kam es zu einer höchst aufschlußreichen allgemeinen Diskussion.

    Seit meiner Zeit als Hilfsverteidiger meines Vaters während der Nürnberger Prozesse war ich mit Hellmut Becker befreundet. Er gründete in Berlin das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, mit dem er in der stets heftig umstrittenen Bildungspolitik Einfluß wie kaum ein anderes Forschungszentrum errang. Die Freundschaft mit ihm bewährte sich auch durch die ebenso intelligente wie freimütige Offenherzigkeit seiner Kritik.
    Die Wissenschaftler gingen ihren Themen nach, beteiligten sich aber nur selten an den Fragen der Stadt. Unser Wissenschaftssenator Wilhelm Kewenig setzte mit seiner ideenreichen, liberalen und integren Art die Arbeit fort, die Peter Glotz und andere gute Vorgänger ihm hinterlassen hatten.
    Für mich gab es vor allem höchst wertvolle Kontakte mit einzelnen Professoren. Zu ihnen gehörte mein alter und enger persönlicher Freund aus Nürnberger Zeiten, Hellmut Becker,
Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung. Zusammen mit seiner Frau Antoinette hatte er mir während der ersten Nachkriegsmonate in Kreßbronn am Bodensee einen privaten Erwachsenenbildungskurs nach dem anderen gegeben, vor allem in der Literatur und in den Sozialwissenschaften. Für ihn, den Sohn des in der ganzen Bildungspolitik unvergessenen preußischen Kultusministers C.H. Becker, war ich ein Probeobjekt im Hinblick auf seine spätere Aufgabe als Präsident des deutschen Volkshochschulverbandes. Immer wenn er streng wurde, sagte er, es geschehe aus pädagogischen Gründen zu meinem Besten.
    Mit dem von ihm konzipierten und geleiteten Institut für Bildungsforschung wies er der Max-Planck-Gesellschaft neue Wege. Es hatte in der stets heftig umstrittenen Bildungspolitik Einfluß wie kein anderes deutsches Forschungszentrum. Zusammen mit dem Historiker Karl Dietrich Erdmann gelang es Hellmut Becker während der späten sechziger Jahre im Bildungsrat, die bisher vielleicht einzige wirkungsvolle gesamtstaatliche Denkarbeit von Rang in der Nachkriegszeit zu leisten. Bei ihnen lernte man Denken im Dialog. Vor der Intensität und Qualität ihrer Arbeitsweise mußten die massiven politischen Gegensätze kapitulieren.
    Sein Werk galt der unentbehrlichen kulturellen Substanz der Politik und der prägenden politischen Kraft von Kultur. Seine Vorliebe galt der Jurisprudenz, der Medizin und der Pädagogik - den »vermutungsintensiven Fächern« (Wolf Lepenies). Seine Freundschaft bewahrte Hellmut Becker mir gegenüber vor allem durch die ebenso intelligente wie freimütige Offenherzigkeit seiner Kritik in menschlichen Fragen nicht weniger als in politischen.

Wahl zum Bundespräsidenten
    Inzwischen ging das Jahr 1983 seinem Ende entgegen. In seinem Verlauf gab Bundespräsident Carstens zur allseitigen Überraschung bekannt, daß er für eine zweite Amtszeit nicht bereitstehe. Alsbald begannen die Medien, über seine Nachfolge zu spekulieren. Immer gezielter nannten sie meinen Namen und drängten mich um eine Stellungnahme. Aber ich konnte und wollte keine Frage beantworten, die mir von zuständiger Seite gar nicht gestellt war.
    In der Bundesversammlung verfügten die Unionsparteien über die absolute Mehrheit. Ihre Nominierung eines Kandidaten war demnach eine Vorentscheidung über die endgültige Wahl. Also war es Aufgabe der Parteivorstände, sich darüber schlüssig zu werden, wen sie vorschlagen wollten. Dort tat sich aber nichts. Deshalb schwieg auch ich. Nur einmal

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