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Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard von Weizsäcker
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scheinbar obsolet gewordene Fragen meldeten sich neu, unter ihnen vor allem die Frage nach der Zukunft der Deutschen, die offene Frage schlechthin. Und wie von selbst verbanden sich solche, wenn auch noch ganz unscharfen Ausblicke auf die kommende Zeit mit historischen Rückblicken und Empfindlichkeiten. Was für eine neue Wirklichkeit würde nun in Deutschland heranwachsen? Welche Vorstellungen würden die Deutschen von ihrer Identität, ihrer Nation, ihrem Patriotismus, ihren Aufgaben entwickeln? Auf welchem Verständnis der Vergangenheit würden sie dies aufbauen?

    Am 14. November 1940 hatten deutsche Bomber die englische Stadt Coventry mit ihrer ehrwürdigen Kathedrale in Schutt und Asche gelegt. Fünfzig Jahre später kamen die 90jährige britische Königinmutter Elizabeth und ich als Ausdruck der Versöhnung zu einem gemeinsamen Gottesdienst in dem Kirchenbau zusammen. Der Kathedralchor von Coventry und der Dresdner Kreuzchor sangen im Wechsel.

    Als Erwiderung meines Besuchs 1990 in der von Deutschen zerstörten Kathedrale von Coventry nahm Königin Elizabeth II. am 22. Oktober 1992 an einem ökumenischen Gottesdienst in der Kreuzkirche des von den Briten zerbombten Dresden teil. Ihr Mann, Prinz Philip, und der sächsische Ministerpräsident, Kurt Biedenkopf, lasen gemeinsam Texte aus der Bergpredigt.

    Solche Fragen zu beantworten war nun aber nicht mehr die Sache der anderen Mächte. Vielmehr ging es um unser eigenes, deutsches, von keinem Sieger aufgezwungenes unverschleiertes Bild von unserer Herkunft als Fundament für unsere Zukunft. Darauf kam es in meiner Rede an. Mir war bewußt, daß ich für uns alle zu sprechen hatte. Es galt, die Achtung vor den unendlich schweren Schicksalen der Menschen mit unmißverständlich klaren Aussagen für das Ganze zu verbinden. Orientierung fand ich nicht bei abstrakten zeitgeschichtlichen Analysen, sondern bei den konkreten Erfahrungen meiner eigenen Generation. Es waren die vier Zeiten unseres Lebens in ihrem tieferen Zusammenhang: das Ende der Weimarer Republik, Nationalsozialismus und Krieg, Teilung und Kalter Krieg, die Hoffnung auf Vereinigung durch eine historisch-moralisch fundierte Politik.
    In der Ansprache zitierte ich den Gedanken einer Religion, der ich nicht angehöre, eine alte jüdische Weisheit: »Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.« Wir können uns nicht selbst erlösen. Auch können wir nichts ungeschehen machen. Wir haben das Abgründige erfahren, an ihm teilgenommen. Eines aber können und müssen wir tun: ihm mit Wahrhaftigkeit ins Auge sehen. Darum ging es um seiner selbst und nun um der Zukunft willen.

    Am 8.Mai 1985 sprach ich im Bundestag zum vierzigsten Jahrestag des Kriegsendes.
    So kam eine Rede heraus, die die politischste und zugleich die persönlichste meiner Amtszeit wurde. Es war am Echo aus dem In- und Ausland zu spüren, das mich seither nicht mehr verlassen hat. Zu ihrer Vorbereitung hatte ich Gespräche aller Art geführt und viel gearbeitet, am intensivsten zusammen mit Michael Engelhardt, einem Diplomaten unseres auswärtigen Dienstes, den Walter Scheel mir empfohlen hatte und der dank seiner vollkommenen Unabhängigkeit im Denken und der Schärfe seines gewissenhaften Urteils ein unentbehrlicher Partner geworden war. Dennoch hatte ich mir keinerlei Vorstellung davon gemacht, daß die Rede schließlich so oft gedruckt und in zahlreiche andere Sprachen übersetzt werden sollte. Die stärkste Resonanz gab es bei ungezählten Diskussionen und Korrespondenzen mit Schülern und jungen Leuten. Insgesamt war das lebhafte Echo, auch wenn es zuweilen kontrovers war, ein ermutigendes Zeichen für die kommende Zeit.

Auslandsreisen; erster Austausch von Staatsbesuchen mit Israel
    Meine vorrangigen Aufgaben konzentrierten sich nun auf unsere Beziehungen zu den wichtigsten Nachbarn in Ost und West, zunächst auf Frankreich und die Niederlande, sodann auf Polen und die ČSSR, vor allem aber auf die Sowjetunion. Bei allen diesen Kontakten fiel mir die Aufgabe zu, an der Erkenntnis des Zusammenhangs von Vergangenheit und Zukunft mitzuwirken.
    Mein erster Besuch galt Frankreich; daran konnte es keinen Zweifel geben. Im Verlauf der Geschichte hatten sich unsere beiden Länder stets aneinander gemessen. Nicht der kurzschlüssige Begriff einer Erbfeindschaft hatte die Beziehungen gekennzeichnet, sondern eine Nachbarschaft in der Dialektik von Zuneigung und Distanzierung - so lange, bis die

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