Vier Zeiten - Erinnerungen
den Jahrestag selbst mit Reagan im Bundestag zu begehen. Damit sollte der Erfolg der Bundesrepublik als Partner der freien Welt im Mittelpunkt stehen, nicht dagegen die Vergangenheit. Im Einvernehmen der Verfassungsorgane und auf meine nachdrückliche Bitte hin wurde dann aber beschlossen, den Gedenktag allein unter uns Deutschen im Bundestag zu begehen, ohne die Hilfe ausländischer Freunde.
Reagan stattete uns daher seine Staatsvisite einige Tage vor dem 8. Mai ab. Im Anschluß an den offiziellen Teil in Bonn besuchte er das Konzentrationslager Bergen-Belsen und danach
zusammen mit Kohl den Soldatenfriedhof in Bitburg. Darüber geriet Reagan bei sich zu Hause in eine heftige Krise, weil sich erst nach seiner gegebenen Zusage herausgestellt hatte, daß auf dem Friedhof SS-Angehörige begraben waren. Niemand hatte böse Absichten verfolgt. Auch ist ein Friedhof der Platz, um dem Unfrieden und der Verfolgung Einhalt zu gebieten. Aber jedermann konnte das ganze Ausmaß der Empfindlichkeit beim Umgang mit der Vergangenheit spüren.
Vor diesem Hintergrund versammelten wir uns am 8. Mai 1985 im Parlament. Bundestagspräsident Jenninger hielt eine würdige Ansprache. Danach war es meine Aufgabe, des Kriegsendes mit seinen Ursachen und Folgen zu gedenken. Es waren nicht eigentlich neue Einsichten, die ich vorzutragen hatte. Seit Theodor Heuss hatten alle meine Vorgänger eindeutige Worte zur Vergangenheit gesprochen. Sie bleibt für immer, was sie war.
Aber die Zeit steht niemals still, und mit ihren neuen Perspektiven kann auch der Rückblick ein anderes Gewicht bekommen. Daraus ergab sich der Sinn des Gedenktages.
Vier Jahrzehnte waren seit dem Kriegsende ins Land gegangen, ein großer Zeitabschnitt im Leben von Menschen und Völkern, wie es die Geschichte immer wieder lehrt. Es ist kein Wunder, daß ihm in den Religionen oft eine prägende Rolle zugeschrieben wird, zumal im Judentum und im Christentum. Vierzig Jahre sollte Israel gemäß dem Alten Testament in der Wüste bleiben, bevor es ins verheißene Land einziehen durfte. So unvergleichbar die biblischen Geschichten mit der Gegenwart sind, auch uns stellten sich nach vier Dezennien neue Fragen. Versinkt mit dem Wechsel der Generationen die Vergangenheit in Vergessenheit? Kommt nun eine dunkle Zeit zu ihrem Ende, mit der Zuversicht auf eine gute Zukunft?
Es war merkwürdig. Wir bewegten uns auf einen Schnittpunkt der Epochen zu, an dem sich ein tieferer innerer Zusammenhang über die Brüche der Zeitabschnitte hinweg offenbart. Die Ahnung einer veränderten Zukunft tat sich auf, erreichbar
aber nur im klaren Bewußtsein der Vergangenheit, die sie ablöst und in der sie doch wurzelt.
Es waren die in Umrissen erkennbar werdenden neuen und großen Bewegungen im Ost-West-Verhältnis, die solche Gedanken ans Licht beförderten. Auf dem Weg zu neuen Ufern tat sich ein wiederbelebtes Verlangen nach dem Verständnis der Vergangenheit und ihrer Folgen auf, sowohl bei uns im eigenen Land wie auch bei unseren Nachbarn.
Wie interpretieren wir unsere Vergangenheit? Und wer tut es? Im allgemeinen pflegen Sieger am Ende von Kriegen darauf ihre einseitigen Antworten zu geben und zu diktieren. Dabei befinden sie zumeist auch über Kriegsschuldfragen. In der Regel geschieht das durch Friedensverträge mit fatalen Folgen. In unserem Jahrhundert war Versailles 1919 dafür das klassische Beispiel, das zur schweren, bis zu ihrem bitteren Ende nie überwundenen Hypothek für die Weimarer Republik wurde. Denn es ermöglichte Hitler, dem Zerstörer unserer ersten Republik, die Korrektur der unverstanden gebliebenen Vergangenheit auf sein Programm zu setzen, mit dem er das nationalsozialistische Inferno und den Zusammenbruch des Reiches heraufbeschwor.
Am Ende des zweiten Krieges gab es keinen Friedensvertrag. Die Siegermächte unterwarfen uns in anderer Form. Wir Deutschen wurden geteilt und in den neu aufgebrochenen Kalten Krieg eingebaut. Jeder der beiden deutschen Staaten wurde in seinem Lager ein nützliches, ja unentbehrliches Mitglied. Die jeweiligen Bündnispartner waren mit der neuen Gegenwart vollbeschäftigt. Rückwärtsgerichtete Gedanken an den letzten Krieg mit Deutschland waren für sie offenbar gegenstandslos geworden. Statt dessen erschien die Teilung Deutschlands im Rahmen eines geteilten Kontinents als feste Größe in den internationalen Rechnungen.
Nun aber kamen zunehmend Veränderungen in den Ost-West-Konflikt und seine Lager. Vergessene oder verdrängte, nur
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