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Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard von Weizsäcker
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sich gewissermaßen unverarbeitet vererbt.
    Als ich mit einer nach dem Zufallsprinzip zusammengestellten Gruppe angehender Studenten in Amsterdam sprach, hielt mir eine Abiturientin vor: »Ihr Deutschen behandelt die Türken heute so wie in der Nazizeit die Juden.« Sie sagte es so vor sich hin, als schilderte sie ein Naturgesetz, ohne Emotion und erkennbare Einsicht in die Lebendigkeit von Geschichte. Ich lud die ganze Gruppe für eine Woche zu einem Besuch nach Bonn ein, damit sie mit gleichaltrigen jungen Deutschen etwas verständlich machen und selbst lernend verstehen sollten. Zum Glück gelang es ganz gut.
    Der Besuch in den Niederlanden bot wieder eine Fülle von Anschauung bei den aktuellen Aufgaben beider Länder. Es gibt dort wenig Verherrlichung und daher auch wenig Verachtung des Staates, dafür aber eine ausgeprägte Erfahrung mit Bürgerinitiativen und sozialem Protest. Was man mit einer Neuverteilung von Lohnarbeit, Eigenarbeit und Freizeit anstrebt, wie man mit Ausländern zusammenwächst, auf welchen Wegen man des
grausamen Drogenmißbrauchs Herr wird - die Niederlande sind dafür ein beispielhaftes Laboratorium. Dort nimmt man den Rechtsstaat ernst, aber noch ernster den Gerechtigkeitsstaat. Die Bürger sind keine bequeme, aber eine gewissensbezogene Gesellschaft. Man spürt es an ihrer großen, auch vor dem Eifern nicht zurückscheuenden moralischen Kraft. Bei ihnen kann man gelegentlich den Eindruck gewinnen, daß auch die Katholiken unter ihnen markante calvinistische Züge tragen.
    Bei diesem Besuch spielte meine drei Wochen zuvor im deutschen Bundestag gehaltene Ansprache zur vierzigjährigen Wiederkehr des Kriegsendes am 8. Mai 1945 eine nicht unerhebliche Rolle. Beim Staatsbankett hatte zunächst Königin Beatrix eine präzise und hochinteressante, bewegende und sehr persönliche Rede gehalten. Unmittelbar nach meiner Erwiderung sprang plötzlich und zur allgemeinen Überraschung ihr Mann auf, Prinz Claus. Er bat für diese programmwidrige Übertretung des Protokolls um Nachsicht und reichte mir über den Tisch das erste Exemplar meiner von ihm ins Holländische übersetzten Ansprache zum 8. Mai. Dieser ebenso kluge wie einfühlsame und hochanständige Prinzgemahl aus Deutschland, der es zunächst schwer gehabt hatte in Holland, wollte vor der großen Tischrunde ein Zeichen der Verbundenheit seiner neuen mit seiner alten Heimat geben. Es war ein unvergeßlicher Augenblick. Nur mit Mühe war der niederländische Ministerpräsident Lubbers zurückzuhalten, ein Hoch auf Prinz Claus auszubringen, der unseren Abend zu einer Sternstunde im Dialog zweier europäischer Völker gemacht hatte.
    Bald darauf folgte ein Besuch in Norwegen. In kaum einem anderen Land hatte der deutsche Überfall während des Zweiten Weltkrieges so viel Entsetzen und schmerzliche Empfindungen ausgelöst wie dort. Denn nur selten hatten sich zwei Völker so frei von politischen Konflikten und zugleich geistig und kulturell so nahe gefühlt wie Norweger und Deutsche. Kultur und Kunst hatten wechselseitig Zugang zueinander und dadurch
auch den Weg in die Welt gefunden. In der romantischen Malerei waren Johann Christian Dahl und Caspar David Friedrich dafür ein Beispiel. Edvard Munch wurde zum Wegbereiter der für die spezifisch deutsche Kunst so wichtigen Expressionisten. Aus der norwegischen Weltliteratur sind vor allem Henrik Ibsen und Knut Hamsun geradezu ein Teil unserer eigenen Literatur geworden.
    Unser Gastgeber 1986 war der alte König Olaf V. Als Kronprinz war er selbst noch im Krieg zum norwegischen Oberbefehlshaber ernannt worden. Er hatte eine ebenso vitale wie warmherzige Natur. Als Jüngling zeichnete er sich auf der Schanze des Holmenkollen im Skispringen aus. Im Alter von über achtzig Jahren nahm er noch an sportlichen Wettbewerben teil. Sein Humor blitzte ihm aus den Augen. Am liebsten sagte er gar nichts, nur um seine Wortkargheit ab und zu mit einer kurzen Explosion liebevoller Schlagfertigkeit zu unterbrechen. Wo immer er sich zeigte, strahlte seine Bevölkerung. Jeder Norweger wußte, mit wieviel Verantwortung und Mut Olaf sich im Kriege ausgezeichnet hatte.
    Und nun war charakteristisch für ihn, was er mit mir veranstaltete. Er lud mich zu einer Landpartie in eine kleine Stadt über hundert Kilometer nördlich von Oslo ein. Einen Grund dafür gab er nicht an. Offenbar sollte ich zunächst ruhig denken, daß er mir einen erholsamen Einblick in die schöne stille Natur Norwegens bieten wollte.
    Es kam

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