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Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard von Weizsäcker
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recht als eine Reverenz vor seinem Land.

    Der französische Staatspräsident François Mitterrand, der in deutscher Kriegsgefangenschaft zum ersten Mal unser Land kennengelernt hatte, bewunderte nicht nur Goethe, sondern auch Luther. In Weimar besuchte er kurz vor dem Ende seiner zweiten Präsidentschaft das Haus auf dem Frauenplan, auf den Höhen bei Eisenach die Wartburg. Die Schreibpulte beider Männer waren ihm die prägenden Orte der deutschen Sprache und damit der deutschen Kultur gewesen.

    Auf meine Bitte gehörte zum Programm des Staatsbesuches ein Gespräch mit Schülern. Man erwies mir die Ehre der Einladung in das Lycée Louis Le Grand, das zu den angesehensten französischen Gymnasien zählt. In die illustre Liste seiner Absolventen gehören Molière und Voltaire, Victor Hugo und Jean-Paul Sartre, Valéry Giscard d’Estaing und Jacques Chirac. Die begabten jungen Franzosen zeigten ein völlig entspanntes, aber nicht besonders intensives Verhältnis zu ihren deutschen Altersgenossen. Nach der Schule gehen sie zu ihrer Ausbildung, ebenso wie junge Deutsche, am liebsten nach Amerika. Und wenn sie zurückkommen, wird über den Rhein hinweg Englisch gesprochen. Das Gespräch konzentrierte sich dennoch auf die europäische Zukunft, wobei schon diese Eliteschüler ihr Erstaunen darüber äußerten, warum sich ihre deutschen Kollegen soviel mit Waldschäden befaßten und ihr Interesse auf den Osten des Kontinents richteten, anstatt auf den Süden.
    In der Tat gab es ostpolitisch keine ausreichende Zusammenarbeit zwischen Paris und Bonn, was mehr an den Franzosen lag als an uns. Dahinter steckte eine gewisse Zurückhaltung gegenüber unserer Deutschlandpolitik. Das Ziel menschlicher Erleichterungen durch Verhandlungen mit den Ostberliner Machthabern zu fördern, leuchtete ihnen immerhin ein. Aber einer deutschen Vereinigung sahen sie nur mit zusammengekniffenen Augen entgegen. Frankreich hatte den Zweiten Weltkrieg auf der Siegerseite beendet und doch verloren, gemessen an der globalen Machtstruktur. In noch stärkerem Maß als Großbritannien hatte es von seiner alten Weltmachtrolle Abschied nehmen müssen. Um so sorgfältiger pflegte es die verbleibenden Vormachtinsignien. Zu ihnen gehörten die Vormundschaft bei der frankophonen Familie im ehemaligen Kolonialbereich, die Force de frappe, die ständige Mitgliedschaft im Sicherheitsrat der Ver-einten
Nationen, aber eben auch ihre Teilhabe an der Viermächte-Souveränität, also ihre »Rechte und Verantwortlichkeiten« für Berlin und Deutschland als Ganzes, jene Vokabeln, die sie in ihrem völkerrechtlichen Penthouse hoch über den deutschen Etagen ständig mit Freude wiederholten.

    Bald nach der Wende besuchte die Königin Beatrix der Niederlande die östlichen, die mißverständlich so genannten »neuen« Bundesländer. Hier erkundigte sie sich im mecklenburgischen Bellin bei Güstrow voller Sachverstand nach der Lage der Landwirtschaft.
    In allen Bereichen der direkten Nachbarschaft zwischen Paris und Bonn und der Zusammenarbeit in der EG ging es zügig aufwärts. Adenauer, Robert Schuman und de Gaulle hatten den Grundstein gelegt. Die Freundschaft zwischen Giscard d’Estaing und Helmut Schmidt hatte vor allem wirtschafts- und währungspolitisch entscheidend vorangeholfen. Die Begegnung von François Mitterrand und Helmut Kohl in Verdun war ein aufrichtiger Ausdruck des Wunsches, sich der Vergangenheit gemeinsam zu stellen. Aber den kleinen Rangunterschied in der Souveränität für das ganze Deutschland hielt Paris mit unbeirrbarer
Zähigkeit noch immer aufrecht. Das galt für alle politischen Richtungen in Frankreich.
    Auch der Staatsbesuch bei den Niederländern, dieser Großmacht des europäischen Geistes, fiel in mein erstes Amtsjahr. Mit keinem anderen Nachbarland waren damals die Verbindungen so intensiv. Unser Austausch im wissenschaftlichen und künstlerischen Bereich florierte. Der Handel blühte hin und her. Unzählige Deutsche besuchten die kulturellen Stätten, die Strände und Kaufhäuser in den Niederlanden. Nie enden wollende Karawanen von holländischen Urlaubsautos bevölkerten unsere Autobahnen. Die Beziehungen hätten kaum dichter sein können und waren doch durchaus nicht spannungsfrei. In harmloser Form pflegte sich eine ziemlich geladene Atmosphäre zu zeigen, wenn unsere Mannschaften gegeneinander in Fußballänderspielen antraten. Ganz allgemein war die Vergangenheit im Verhältnis zu uns noch durchaus nicht überwunden. Sie hatte

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