Vier Zeiten - Erinnerungen
Tendenz, den Nachbarn als Negation des eigenen Wesens zu begreifen und zu bekämpfen, ein fatales Übergewicht gewonnen hatte. Erst das Inferno hatte die moralische Kraft der Völker heranwachsen lassen, um nun endlich und unwiderruflich einen gemeinsamen Weg zu finden. Schon vor dem Kriegsende hatte Jean Monnet dafür die Richtung gewiesen.
Alte geistige Wurzeln der Nähe erzeugten rasch neue Lebenskraft. Bei meinem Besuch in Paris erinnerte ich an die Worte des französischen Dichters und Diplomaten Paul Claudel, die er bald nach dem Ende des zweiten Krieges geschrieben hatte: »L’ Allemagne, cette immense coulière, cette immense vallée, n’a pas été faite pour diviser les peuples mais pour les rassembler.« Im Jahr 1981 konnte ein Franzose, Pierre Bertaux, auf unserer großen Preußenausstellung in Berlin seine Eröffnungsansprache mit den Worten beginnen: »Warum spricht hier ein Ausländer? In Berlin ist ein Franzose kein Ausländer. In dieser Stadt, in der einst jeder dritte Berliner aus Frankreich stammte, hat ein Franzose ein gewisses Anrecht auf heimatliche Gefühle.«
Bei meinem Gastgeber François Mitterrand kamen ähnliche Empfindungen zum Vorschein. De Gaulle und Adenauer hatten sich im Umkreis des Rheines bewegt, beide in ihren Empfindungen ziemlich weit entfernt von Berlin. Mitterrand dagegen sprach mit mir am liebsten über Preußen. Daß Frankreich die preußischen Reformen aus der Napoleon-Zeit nicht verstanden und von ihnen nichts gelernt habe - so sagte er mir -, sei für Frankreichs Schwächen im ganzen 19. Jahrhundert mit verantwortlich gewesen. Im Laufe unserer vielen Begegnungen bekannte er sich immer wieder zu der Überzeugung, nichts sei dem preußischen Wesen fremder gewesen als Hitler.
1947 hatte der damalige amerikanische Außenminister George C. Marshall bei der traditionsreichen alljährlichen Commencementfeier der Harvard University in Cambridge (Massachusetts) die Rede gehalten, die den nach ihm benannten, für den europäischen Wiederaufbau entscheidenden Marshallplan ankündigte. Vierzig Jahre später, am 11.Juni 1987, dankte ich den Vereinigten Staaten im Namen der Europäer dafür. Zusammen mit dem Sprecher des amerikanischen Repräsentantenhauses Tip O’Neill (links von mir) erhielt ich die Ehrendoktorwürde der Harvard University.
Doch nun ging es natürlich nicht mehr um Preußen, sondern um Europa. In Fragen der Europäischen Gemeinschaft drängte Mitterrand gemeinsam mit uns voran, nicht ohne ein gewisses Maß von Ungeduld: »Zusammen können wir es. Aber wir sind in einer Phase, wo das Schicksal noch zögert«, sagte er.
Mitterrand war ein Gastgeber von bezwingender Liebenswürdigkeit. Zu seinen Vorlieben gehörte es, Geschenke zu machen, die nicht üppig, aber persönlich waren. Einmal übergab er mir einen dünnen Band des Marienlebens von Rainer Maria Rilke; es war ein seltenes Exemplar aus der elitären Reihe der Künstler-Goltz-Bände, die von Jugendstilkünstlern in nur dreißig Exemplaren gemalt und eingebunden wurden. Mitterrand hatte es bei einem Bouquinisten am Seine-Ufer für mich ausgesucht. Kaum je habe ich ihn unter Druck erlebt. Mit Vergnügen vermittelte er das Gefühl, Zeit zu haben. Am lebhaftesten wurden seine Gespräche, wenn es um den Zusammenhang von Kultur, Geschichte und aktueller politischer Perspektive ging.
In späteren Jahren lud ich ihn einmal nach Weimar und auf die Wartburg ein. Zunächst versicherte er mir direkt unter dem Goethe-Schiller Denkmal vor dem Nationaltheater, daß er bei allem geschuldeten Respekt vor dem Pfälzer Saumagen die Thüringer Bratwurst doch deutlich vorziehe. Dann sah er sich mit faszinierter Neugier um und dankte mir abends dafür, nun
endlich mit eigenen Augen die beiden Pulte gesehen zu haben, an denen Luther und Goethe die deutsche Sprache und damit die deutsche Kultur geschaffen hätten. Dann fügte er schelmisch hinzu, bisher hätten wir ihn ja immer nur den Rhein hinauf- und hinuntergeführt und dadurch mit französischer Kultur vertraut gemacht. Auch sonst war er nicht zurückhaltend, wenn es um den Beitrag Frankreichs zur europäischen Kultur ging. In der Villa Hammerschmidt zeigte ich ihm einmal ein Frühwerk des aus Brühl bei Köln stammenden großen Malers Max Ernst. Sofort lobte Mitterrand mich dafür, meine Residenz mit französischen Künstlern zu zieren. Daß Max Ernst nicht aus politischen Gründen nach Frankreich übergesiedelt war, sondern um einer Frau willen, empfand Mitterrand erst
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