Vier Zeiten - Erinnerungen
charakterisierte.
»Jerusalem ist gebaut als eine Stadt, in der man zusammenkommen soll«, so sagt es der Psalmist. Und so war es denn auch bei diesem Staatsbesuch. Der evangelische Propst in der Erlöserkirche, die aus der wilhelminischen Zeit stammt, lud uns in die Altstadt ein. Auf dem Tempelberg empfing uns der Mufti von Jerusalem mit einer durchaus maßvollen Ansprache. Im Kreis der Benediktiner auf dem Zion gab es mit Studenten und Professoren der Theologischen Fakultät der Abtei Dormitio einen Gedankenaustausch über die Religionen: Wer versucht, ein Christ zu sein, wird scheitern, wenn er vom Gott der Juden nichts weiß, so empfanden wir es alle. Draußen begrüßte uns
eine Schar deutscher Touristen mit ihrem Chorgesang: »Gesundheit und Segen auf all Deinen Wegen«.
Dann folgte eine Diskussion mit jungen Israelis. Sie stand im Zeichen der neunundzwanzigjährigen Yael Gouri, deren Angehörige dem Holocaust zum Opfer gefallen waren und die mit unerbittlichem Ernst nach der Verantwortung deutscher Soldaten im Krieg forschte. Niemals in ihrem Leben könne sie sich entschließen, deutschen Boden zu betreten. Es war vor allem Friedbert Pflüger, der Sprecher des Bundespräsidialamtes, der sich dem Gespräch mit der jungen Frau zuwandte. Ihn zeichnete eine verantwortungsbewußte Empfindung dafür aus, die Aufgaben und Chancen einer neuen Verständigung der jungen Generationen über Grenzen hinweg wahrzunehmen. In den Zeiten der härtesten Konfrontationen an den deutschen Hochschulen hatte er als Bundesvorsitzender des RCDS seinen Mut, seinen Scharfsinn, aber auch seine Fähigkeit zum Dialog bewiesen. Während seiner Studien in den USA war die Menschenrechtspolitik von Präsident Carter sein Schwerpunkt. Nach Jahren unserer Zusammenarbeit in Berlin wurde er ein unentbehrlicher Helfer im Präsidialamt, so wie nun auch in Jerusalem. Mit dem ihm eigenen Engagement rang er mit der jungen Frau um ihre und unsere eigenen Gedanken. Am folgenden Tag brachte er es fertig, ihre Bereitschaft zu gewinnen, mit uns nach Deutschland zu fliegen. Sie wollte sich eigenen Eindrücken aussetzen, und sie tat es ohne Schonung für sich und für uns. Alle jungen Deutschen, die sie bei uns traf, haben zusammen mit ihr gelernt.
Mit Chaim Herzog war eine persönliche Freundschaft entstanden, die sich bis zu seinem Tode immer weiter vertieft hat. 1987 kam er zum Staatsbesuch nach Deutschland; zum ersten Mal betrat ein Staatsoberhaupt aus Israel deutschen Boden. Um reisen zu können, hatte Herzog sich gegen starken Widerstand in der Knesset durchgesetzt. Wir fuhren nach Bergen-Belsen. Er sprach, wie er war: »Die einzigen, die vergeben können, sind tot; die Lebenden haben kein Recht, zu vergessen.«
Wir besuchten den jüdischen Friedhof in Worms, den ältesten in Europa, und dort auch das Rashi-Haus, das an Rabbi Shlomo Yitzhaki erinnert, den wohl bedeutendsten Kommentator von Bibel und Talmud. Im Gefängnis von Berlin-Plötzensee ehrte Herzog den deutschen Widerstand gegen Hitler.
Begegnung mit Gorbatschow in Moskau
Inzwischen bereiteten sich große Bewegungen im Ost-West-Verhältnis vor. Im Frühjahr 1985 war Michail Sergejewitsch Gorbatschow Generalsekretär der KPdSU geworden. Ihm ist es zu danken, daß es mit den Reformen in der Sowjetunion ernst wurde. Er hatte erkannt, daß die alten Rüstungsprioritäten seinem Imperium keinen weltmachtpolitischen Spielraum mehr verschaffen konnten, wohl aber die bedrängte Versorgungslage zu Hause gefährlich zuspitzten. Nach seiner Einsicht war es nun eine zwingende Notwendigkeit, das Land zu öffnen.
Mit Glasnost und Perestroika sollte die Sowjetunion weltweit wettbewerbsfähig werden. Diese Reformen verschrieb Gorbatschow seinem Land in der Überzeugung, daß er sie durchsetzen und zugleich das sowjetische System im Prinzip bewahren, ja dessen eigentlichen Sinn überhaupt zum ersten Mal erfüllen könne.
Die Entwicklung hat seinen Irrtum offenbart. Es gab keinen Ausweg. Je länger das System abgeschlossen blieb, desto schneller ging ihm die Lebensluft aus. Die Öffnung aber führte unausweichlich zu seiner Zerstörung.
Dennoch verbinden sich fundamentale historische Erneuerungsprozesse mit dem Namen Gorbatschow. Er wurde schlechthin zur Schlüsselfigur für revolutionäre Veränderungen mit fast durchweg friedlichen Mitteln. Zu seinen entscheidenden Leistungen zählte es, die Breschnew-Doktrin aufzukündigen,
die den sozialistischen Staaten nur eine beschränkte Souveränität und
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