Vier Zeiten - Erinnerungen
seit Jahren schätzte.
Es gab kein Thema ohne Empfindlichkeiten. Führt uns allein die Abrüstung zum Frieden? Oder folgt nicht vielmehr die Abrüstung erst aus einer bewährten friedlichen Zusammenarbeit? Wie lange bleibt Sicherheit unverzichtbar? Ich zitierte ein russisches Sprichwort, wonach niemand gerne das Hühnchen sein möchte, welches der Rabe bis zum letzten Federchen küßt. Warum müssen ausreisewillige Rußlanddeutsche noch immer fürchten, Arbeitsplatz und Wohnung zu verlieren, nur weil sie einen Ausreiseantrag gestellt haben? Wie lange sollen die Grenzen
in Europa ihren trennenden, unmenschlichen Charakter behalten?
»Die Deutschen, die heute in Ost und West getrennt leben, haben nicht aufgehört und werden nicht aufhören, sich als eine Nation zu fühlen. In der Freiheit erfüllt sich die Einheit der Nation.« Nur zweieinhalb Jahre später öffnete sich die Mauer in Berlin. Aber im Sommer 1987 schienen die Festsaalwände im Kreml solche von mir dort öffentlich gesprochenen Worte einfach zu verschlucken. Die Prawda machte wieder einmal ihrem Namen »Wahrheit« alle Unehre. Entgegen einem festen Moskauer Ritual zensierte sie meine Rede und strich alles, was ich über die Grenze, die Einheit, über Rabe und Hühnchen, über den fälligen Abzug der Sowjets aus Afghanistan und auch über den Königsberger Immanuel Kant gesagt hatte. Das also war meine erste Glasnost-Erfahrung. Auf eine Intervention von Genscher bei seinem Kollegen Schewardnadse erschien der volle Text dann doch einige Tage später, allerdings in der Iswestja.
Fast alles war schwierig. Uns war ein junger deutscher Sportflieger mit Namen Matthias Rust vorausgeflogen. Auf ebenso schneidige wie unverantwortliche Weise hatte er die sowjetische Luftaufsicht unterflogen und war mit seiner kleinen Maschine mitten auf dem Roten Platz in Moskau gelandet. Nun wartete er auf sein Urteil durch ein sowjetisches Gericht. Das konnte ja auch gar nicht anders sein. Ich intervenierte zu seinen Gunsten, blieb damit aber lange Zeit erfolglos.
Im Hinblick auf meine Erfahrungen mit dem Gefängnis in Berlin-Spandau, dem einzigen, noch in Betrieb gehaltenen Standort aller vier Siegermächte in unserer Hauptstadt, brachte ich die Bitte vor, endlich den ehemaligen sogenannten »Stellvertreter des Führers« Rudolf Heß aus der Haft zu entlassen. Nicht seine Verurteilung zog ich in Zweifel. Aber nun war er seit sechsundvierzig Jahren inhaftiert, ein Greis von vierundneunzig Jahren. Ein weiterer Strafvollzug hatte jeden menschlichen Sinn verloren. Gnade ist die Stütze der Gerechtigkeit, so lautet eine russische
Weisheit, die ich zitierte. Aber niemand reagierte in Moskau. Sechs Wochen später nahm sich Heß im Gefängnis das Leben.
Hatte mir bei unserem Parlamentarierbesuch im Jahre 1973 in Moskau das damalige Staatsoberhaupt Podgorny auf meine Intervention hin noch bestritten, daß es überhaupt deutsche Soldatengräber auf russischem Boden gäbe, so konnte ich diesmal endlich auf einem unserer Soldatenfriedhöfe in Moskau-Lublino einen Kranz niederlegen. Die Reise führte auch nach Leningrad. Dort besuchte ich noch einmal den Piskarewskoje-Friedhof, der an die furchtbaren Opfer unter der Zivilbevölkerung und den Soldaten mahnt. Meinen Kranz trugen nun zum ersten Mal sowjetische und deutsche Offiziere Hand in Hand.
Der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche empfing uns im Moskauer Danilow-Kloster. Mit großer Umsicht führte Frau Gromyko meine Frau durch die Kirche. Als die beiden Damen einen Seitenaltar besuchten, wies die Gastgeberin meiner Frau den Weg zu den Kerzen, die die Gläubigen vor einer Marienikone entzünden.
Es gab ermutigende Zeichen der Reformen. Als erstem Gast aus dem Westen wurde mir die Möglichkeit gegeben, mit zwanzig jungen Moskauer Studentinnen und Studenten im sowjetischen Fernsehen ausführlich zu diskutieren. Es war ein engagiertes, am Ende entspanntes und beinahe heiteres Gespräch. Glücklich war ich über die Mitwirkung unserer Tochter Beatrice, die - als einzige deutsche Teilnehmerin - wesentlich zum Gelingen beitrug.
Unser Botschafter Meyer-Landrut veranstaltete ein Gespräch mit Dichtern, Filmemachern und vor allem mit leitenden Redakteuren sowjetischer Medien. Zu den Teilnehmern zählte Jewtuschenko, Ajtmatow, Valentin Rasputin und Elem Klimow. Es war faszinierend mitzuerleben, mit wieviel Leidenschaft, Verantwortungsgefühl, Scharfsinn und Mut diese geistige Elite darum rang, aus neuen, noch kleinen Freiheitschancen
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