Vier Zeiten - Erinnerungen
Moskau ein allgemeines Interventionsrecht zuerkannt hatte. Jedes sozialistische Land sollte nun nach Gorbatschows Maßgabe seine Entwicklung allein bestimmen. Der außenpolitische Sprecher in Moskau, Gennadi Gerassimow, fand für diese Maßnahme des Generalsekretärs den Namen »Sinatra-Doktrin«, gemäß dem Klassiker von Frank Sinatra »My way«. Am Ende dieses Weges standen die Auflösung des Sowjetimperiums und der friedliche Machtwechsel in Ungarn und Polen, in der ČSSR und der DDR.
Zunächst ging es langsam voran. In der Außenpolitik konzentrierte sich Gorbatschow vor allem auf die Beziehungen zur anderen Supermacht. Er propagierte, das Wettrüsten durch massive Abrüstung bis hin zu Nullösungen zu ersetzen. Mit einseitigen Vorleistungen begann er, den Westen unter Druck zu setzen, nicht ohne Erfolg. Bei seinem Treffen mit Präsident Reagan 1986 in Reykjavík ging es auf solchen Wegen rascher und unberechenbarer voran, als es den Beratern des amerikanischen Präsidenten noch geheuer erschien.
Zu Westeuropa nahm Gorbatschow die Fäden behutsam auf. Er sondierte unter den Hauptstädten. Eine Zeitlang machte sich die britische Premierministerin die schönsten Hoffnungen, er habe sie als seine Vermittlerin gegenüber der ganzen europäischen Gemeinschaft erwählt. Ohne Zweifel hatte sie ihn persönlich stark beeindruckt. Aber daß man von Moskau aus nicht ausgerechnet über das Inselreich von Margaret Thatcher in die Herzen der Franzosen und Deutschen vordringt, das merkte er dann doch ziemlich schnell.
Gerade weil sich zu jener Zeit die Bundesregierung mit Recht darum bemühte, deutschlandpolitische Fortschritte auszubauen, war sie für die sowjetischen Interessen nicht zu umgehen. Hinzu kam der massive Bedarf Moskaus an Wirtschaftsbeziehungen mit uns. Auf entsprechende Anzeichen stieg das Ansehen des sowjetischen Generalsekretärs unter den Deutschen
rasch an. Die ersten »Gorbi, Gorbi«-Rufe ertönten. Sie lösten mancherorts im Westen einige Unruhe aus, zumal in Amerika. Kohl bemühte sich, entsprechende Sorgen bei den Verbündeten zu beschwichtigen. Darauf zielte auch seine Bemerkung in einem Interview mit der amerikanischen Zeitschrift Newsweek, Gorbatschow arbeite mit der propagandistischen Raffinesse von Josef Goebbels. Moskau reagierte darauf allerdings sofort und scharf. Der erforderliche und im Prinzip natürlich auch von Kohl angestrebte Kontakt war fürs erste blockiert.
So konnte es aber nicht bleiben. Da nahm ein ungewöhnlicher Gedanke Gestalt an: Ein Staatsbesuch sollte helfen. Diesmal sollte er nicht, wie üblich, den krönenden Abschluß einer positiven Entwicklung bilden, vielmehr sollte er sie einleiten. Mein »Kollege« in Moskau, der frühere Außenminister und jetzige sowjetische Präsident Andrej Gromyko lud mich zum Staatsbesuch ein. In den deutschen Medien hieß es, ich solle als »Eisbrecher« fahren. Die TASS verlangte von meinem Besuch ein »Zurückbringen auf die Bahn der Stabilität«.
Es war harte Arbeit. Zusammen mit Genscher, der an den Vorbereitungen maßgeblich beteiligt war, machte ich mich auf den Weg. Zu unserer Delegation zählten Sondergäste, unter ihnen zu meiner Freude die Schriftsteller Siegfried Lenz und Alexander Kluge, der in der sowjetischen politischen Wissenschaft und Politik bestens bewanderte und geachtete Professor Klaus Ritter, der Präsident des Deutschen Roten Kreuzes, Prinz zu Sayn-Wittgenstein, und der Chef der Deutschen Bank, Christians. Einhundertsechsunddreißig Medienvertreter begleiteten den Besuch.
Im Winter 1941/42 war ich einer der vordersten deutschen Infanteristen gewesen, die bis in Sichtweite an das Flakfeuer über Moskau herangekommen waren, bevor uns der Widerstand der Russen und die grimmige Kälte zum Rückzug zwangen. Diesmal leuchteten über dem Eingang zur Metropole in Weiß und Rot die Worte: »Herzlich Willkommen Herr Bundespräsident«.
Mit hoher Geschwindigkeit wurden wir in die prohibitionsfreie Staatssuite des Kreml verbracht und dort zunächst mit immer neuen Wodka-Angeboten uns selbst überlassen. Wir sollten eben nicht so darben, wie es Gorbatschow gerade tollkühnerweise seinem Volke verschrieben hatte.
Jede Begegnung mit Siegfried Lenz war eine Freude. Ich hatte sein früheres »Suleyken« geliebt, dann seine große »Deutschstunde« bewundert. Im Jahr 1987 begleitete er mich auf einer Reise in die Sowjetunion. Im Hintergrund zwischen uns der Chef des Bundespräsidialamtes, Staatssekretär Klaus Blech, den ich schon
Weitere Kostenlose Bücher