Vier Zeiten - Erinnerungen
eine große moralische und politische Bewegung erwachsen zu lassen.
Familienausflug 1987 über den Roten Platz in Moskau, der jetzt unter Denkmalschutz steht. Meine Frau und ich mit unserer Tochter Beatrice, die maßgeblich an einer Fernsehdiskussion mit jungen Russen teilgenommen hatte, unter dem Spasskij-Turm des Kreml.
Im Mittelpunkt der Reise stand ein langes Gespräch, das Gorbatschow, begleitet von Schewardnadse, mit Genscher und mir führte. Es war meine erste Begegnung mit ihm. Er sprach mit geballter Energie und ohne Verspannung. Sein freier Blick war beim Gespräch offener als seine Ohren. Er war nicht nur vom Verstand geprägt, sondern auch gefühlsbetont. Von dem herzlichen Charme, den er zu entfalten vermag, war bei diesem ersten Kontakt nicht allzuviel zu spüren. Jedenfalls blieb er auf Anhieb nicht eben leicht zugänglich.
Bei unserem Gespräch verlor er keine Minute mit Ideologie und Propaganda. Statt dessen wandte er sich in vollkommen konzentrierter Form seinen langfristigen Konzeptionen und Visionen zu. Seine Überzeugungen waren von keinen Zweifeln getrübt. Als ich von der offenen deutschen Frage anfing, leugnete er rundheraus ihre Existenz. Ich nahm einen zweiten Anlauf, worauf er erwiderte, wir sollten doch die Lösung der Geschichte überlassen; niemand wisse, was in hundert Jahren sei. Als ich ihn schmunzelnd fragte, ob er denn wisse, was in fünfzig Jahren passiere, begann auch er zu lächeln. Nach seinen eigenen späteren Bekundungen war dieses Gespräch überhaupt das erste, in welchem Gorbatschow mit einem Deutschen über die offene deutsche Frage redete, nur fast drei Jahre bevor er sie unserem Bundeskanzler in Moskau und danach im Kaukasus verbindlich beantwortete.
Kurz nach meinem Besuch sagte Gorbatschow zu Franz-Josef Strauß, meine Reise habe »eine neue Seite in der Geschichte aufgeschlagen«. Zu Hause charakterisierte Kohl meinen Besuch in Moskau als einen »Meilenstein der Verständigung«, die er mit Gorbatschow dann später auf persönliche und eindrucksvolle Weise in die Tat umsetzte. Die Aufmerksamkeit für meine Reise in die Sowjetunion war zu Hause ernsthaft, aber auch entspannt, wie sich in achtundfünfzig verschiedenen Karikaturen und einer Fülle von Zuschriften zeigte. Besonders freute mich ein Brief des alten Heinz Rühmann. Er wußte sehr wohl,
wie hart es gewesen und worum es gegangen war. Um so erleichterter reagierte er, daß das Fernsehen auch heitere Gesichter vermittelt habe. »Wenn Du den Satz ernst meinst, sag ihn mit einem Lächeln«, das sei der Rat eines Regisseurs gewesen, den er für sich als wegweisend empfunden und den er auch bei meiner Reise wahrgenommen habe.
Im Sommer 1987 reiste ich mit Genscher zum Staatsbesuch nach Moskau, wo Gorbatschow inzwischen Generalsekretär der Partei und damit Kremlchef war. Nach Kanzler Kohls sonderbarem Vergleich Gorbatschows mit Goebbels waren unsere Beziehungen zu Moskau fast auf den Nullpunkt gekommen. Ich sollte als »Eisbrecher« fahren, wie die deutschen Medien schrieben. Es war eine notwendige, aber schwierige Reise. Kohl nannte ihr Ergebnis einen »Meilenstein der Verständigung«. Zu Hause gab es 58 Karikaturen über den Besuch. Hanel schrieb unter die seine: »Es war nicht leicht.«
Besuche von Honecker, Bush und Gorbatschow in Bonn
Heute blickt mancher auf die letzten drei Jahre vor dem Fall der Mauer zurück, als wären sie einem klugen Plan, einem festen Willen und daher einem vorhersehbaren Ablauf gefolgt. Aber ein solcher retrospektiver Determinismus täuscht. Aller Entschlossenheit Gorbatschows zugunsten von Reformen, von Abrüstung und Frieden zum Trotz konnte doch 1987 niemand, wohl auch er selbst nicht, vorhersehen, zu welchen Zugeständnissen er 1990 bereit sein mußte. Die innere Lage der sozialistischen Länder im Warschauer Pakt wurde immer schlechter, und dennoch war das Ende der Teilung Europas kaum erkennbar. Und auch soweit sich eine revolutionäre Situation nach der Definition von Lenin hätte absehen lassen, wonach die unten nicht mehr wollen und die oben nicht mehr können, blieben dafür die verschiedensten Abläufe denkbar.
Eine immer widersprüchlichere Lage war vor allem für die Führung in der DDR entstanden. Dem Aufruf Gorbatschows zu Reformen wollte sie durchaus nicht folgen. Die deutsche Zweistaatlichkeit suchte sie zu befestigen. Für den innenpolitischen Bedarf hielt sie an den herkömmlichen Feindbildern gegen Imperialismus, Kapitalismus und Revanchismus fest.
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