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Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard von Weizsäcker
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Zugleich aber benötigte und suchte sie westdeutsche Finanzquellen. Honecker versuchte, die Entspannung nach außen zu praktizieren und nach innen zu verweigern. Politisch bedurfte er der Abgrenzung gegen die Bundesrepublik, wirtschaftlich suchte er ihre Partnerschaft und geriet immer mehr in ihre Abhängigkeit. Er zahlte mit Reiseerleichterungen. Zwölf Jahre lang bis 1985 konnten jährlich ungefähr zwischen vierzig- und sechzigtausend DDR-Bürger unterhalb des Rentenalters in den Westen reisen. Im Jahre 1986 sprang die Zahl auf zweihundertfünfzigtausend und im darauffolgenden Jahr auf 1,2 Millionen. Die harte D-Mark wurde zu einer Art zweiter Währung. Vereinzelt wurden in Betrieben der DDR schon Lohnanteile damit bezahlt. In der Bevölkerung wurde die Atmosphäre immer gesamtdeutscher.

    Auf allen möglichen neuen und erstaunlichen Wegen gab es auflockernde Anzeichen. Mitte der achtziger Jahre wurde eine große Bismarck-Biographie des renommierten DDR-Historikers Ernst Engelberg gleichzeitig in Ost- und Westberlin herausgebracht. Kurz darauf besuchte mich der Vertreter eines Ostberliner Verlages mit dem Vorschlag, einige meiner Reden in der DDR zu publizieren, wofür er später die erforderliche Zustimmung des Politbüros der SED erhielt. Ende 1985 kam die erste innerdeutsche Städtepartnerschaft zustande; sie wurde zwischen Saarlouis und Eisenhüttenstadt abgeschlossen. Im Mai 1986 wurde das deutsch-deutsche Kulturabkommen unterzeichnet.
    Honecker drängte nun auf einen offiziellen Besuch in Bonn. Zweimal schon hatte ihn Moskau daran gehindert. Dort war man gegenüber innerdeutschen Sonderbeziehungen noch mißtrauisch, zumal die hohen westdeutschen Kredite bei den Sowjets als suspekt galten. Kurz nach meinem Besuch in der Sowjetunion erhielt Honecker von Gorbatschow grünes Licht für die Reise. Im September 1987 wurde er in Bonn von Kohl mit allen militärischen Ehren, mit seiner Hymne und Flagge empfangen.
    Welche Konsequenzen würde dies haben? Honecker selbst schien sich am Ziel seiner Wünsche zu fühlen, nämlich bei der formellen protokollarischen Anerkennung der Eigenstaatlichkeit seiner DDR durch den anderen deutschen Staat. »Die Teilung hat sich vollendet«, so stand es im »Neuen Deutschland«, dem Zentralorgan der SED. Honecker selbst ging so weit, die Abgrenzung nunmehr für weniger zwingend als früher zu halten. In diesem Sinne sagte er auf seiner Bonner Pressekonferenz, der Tag werde kommen, »an dem die Grenzen uns nicht mehr trennen, sondern vereinen«, aber natürlich nicht staatlich.
    Dennoch ist es schwer vorstellbar, daß ihm die Ambivalenz der Entwicklung völlig verborgen geblieben wäre. Er war bei uns in Bonn nicht, wie bei jedem Staatsoberhaupt protokollarisch
vorgeschrieben, vom Bundespräsidenten offiziell begrüßt worden, sondern vom Bundeskanzler. Denn die DDR war für uns kein Ausland. Kohl und ich hatten ihn in den Reden und Gesprächen als Deutschen unter Deutschen begrüßt. Wir unterstrichen beide die Zusammengehörigkeit in Deutschland und nannten deutlich beim Namen, was wir im deutschen Interesse von der DDR erwarteten. Auf einem langen Spaziergang zu zweit im Garten der Villa Hammerschmidt konkretisierte ich die innerdeutschen Notwendigkeiten ebenso wie die gemeinsame Aufgabe der Deutschen für den Frieden in Europa. Die Bundesregierung schloß mehrere Kooperationsabkommen mit der Ostberliner Delegation.
    Gewiß, keiner von uns sah damals für die überschaubare Zukunft eine realistische Chance zur staatlichen Vereinigung. Brandt hatte sie als »Lebenslüge« bezeichnet, Kohl stellte später fest, daß sie noch nicht auf der Tagesordnung der allgemeinen Ost-West-Politik stehe. Faktisch förderte Honeckers Besuch aber gerade nicht die Zweistaatlichkeit, sondern den Zusammenhalt in Deutschland. Der Einfluß der Bundesrepublik auf die DDR verstärkte sich weiter. Dies galt nicht nur für die angespannte materielle Lage im SED-Regime, sondern vor allem für die Stimmung in der ostdeutschen Bevölkerung. Der sowjetische Botschafter in Bonn, Julij Kwizinskij, charakterisierte die Entwicklung mit den Worten: »Die DDR schluckte den goldenen Angelhaken, von dem sie dann nicht mehr loskam.«
    Die Welt stand immer mehr im Banne der Umgestaltung, an der sich Gorbatschow auf atemberaubende Weise versuchte: dezentralisieren, Selbstverantwortung ermutigen, persönliche Leistung belohnen, Bürger rechtsstaatlich besser schützen, öffentliche Kritik zulassen, sich um Wahrhaftigkeit

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