Vier Zeiten - Erinnerungen
gegenüber der eigenen Geschichte bemühen, jedem Partnerland die Freiheit zum eigenen Weg lassen. Noch waren die Risiken nicht geringer als die Chancen. Es waren aber die bisher bei weitem größten Schritte, mit denen sich der Osten in seinem inneren Gefüge den Prinzipien des Westens annäherte.
Endlich, im September 1987, hatte Honecker dank einer Erlaubnis aus Moskau sein Ziel einer offiziellen Reise nach Bonn erreicht. Der Kanzler empfing ihn mit militärischen Ehren. Im Garten der Villa Hammerschmidt sprach ich mit ihm über das »Grenzregime«. Das »Neue Deutschland« schrieb: »Die Teilung hat sich vollendet.« Zwei Jahre später war sie überwunden.
Das Stichwort lautete: Neues Denken. Für uns im Westen galt es, im Zeichen unserer bewährten Ordnungen daran entschlossen mitzuwirken.
Am 23. Mai 1989 jährte sich das Inkrafttreten unseres Grundgesetzes zum vierzigsten Mal. Die Bundesversammlung trat zusammen und wählte mich für eine zweite Amtsperiode als Bundespräsidenten mit 881 von 1022 Stimmen. Das war ein großer Vertrauensbeweis. Am folgenden Tag sprach ich auf einem Staatsakt über die Ziele, die uns die Präambel des Grundgesetzes gegeben hatte und die sich jetzt mit Aktualität erfüllten: Frieden, Einheit der Europäer, Einheit der Deutschen. Theodor Heuss hatte seinerzeit unsere Verfassung ein Transitorium genannt. Nun war es an uns, daß sich dieser Begriff bewahrheitete. Zugleich erinnerte ich an den großen Franzosen Jean Monnet, der noch kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges unsere Gegner gemahnt hatte, sie hätten den Ersten Weltkrieg gewonnen und dann den Frieden verloren; diesmal sei es entscheidend, den Frieden zu gewinnen, nicht nur im Westen, sondern in ganz Europa.
Frieden kann man nur miteinander gewinnen, nicht gegeneinander. Nach den schweren Jahrzehnten des Kalten Krieges im geteilten Kontinent war der wahrhaftige Umgang mit der europäischen Geschichte eine der großen Friedensaufgaben, so wie sie schon zu den zentralen historischen und moralischen Motiven deutscher Ostpolitik seit der zweiten Hälfte der sechziger Jahre gehört hatte und wie sie nun auch Gorbatschow seinem eigenen Volk nahelegte.
Wir hatten in der Bundesrepublik gerade den Höhepunkt des sogenannten Historikerstreits einigermaßen hinter uns. Er war bald nach meiner Ansprache zum 8. Mai im Jahre 1985 ausgebrochen. Auf dem deutschen Historikertag Ende 1988 trug ich bei, was ich vermochte, um ihn nicht ausufern zu lassen, sondern möglichst zu beenden. Ich wandte mich mit Nachdruck gegen eine geschichtliche und ethische Relativierung der Vergangenheit.
Historische Bezüge und Vergleiche haben in der Wissenschaft ihren Platz. Diese Wissenschaft gibt aber letzten Endes keine andere Antwort auf die Singularität von Geschichte, als das moralische Empfinden des normalen Menschen es tut. Alles geschieht in einem historischen Zusammenhang. Zugleich ist alles in der Geschichte singulär. Es ist so und nicht anders geschehen, anders als anderswo. Was soll uns die Untersuchung bedeuten, ob Auschwitz einen Vergleich mit der grausamen Ausrottung anderer Menschen aushalten könnte? Auschwitz bleibt singulär. Es geschah durch Deutsche. Diese Wahrheit ist unumstößlich, sie wird nirgends vergessen und uns weiter begleiten.
Insiderdiskussion und Konfrontation unter Fachgelehrten müssen sein. Aber diese sollen uns mit ihrer »heiligen Nüchternheit« helfen. Der Umgang mit der Geschichte spielt sich im Herzen der ganzen Nation ab. Die Geschichte gehört nicht nur den Historikern, sondern uns allen. Unsere Demokratie hatte sich seit vierzig Jahren bewährt, nicht zuletzt in unserer Offenheit gegenüber der Geschichte. Daß wir dies leisten können und immer wieder lernen, ermöglicht uns in des Wortes wahrer Bedeutung Selbstbewußtsein. Nun wartete es auf seine Bewährung im Zeichen der Aufgabe, den Frieden in ganz Europa zu gewinnen.
Ende Mai 1989 empfingen wir unseren Freund, den amerikanischen Präsidenten George Bush, zum Besuch in der Bundesrepublik. Zusammen mit seinem ausgezeichneten Außenminister James Baker hatte er sich vorgenommen, in der Deutschlandfrage die Initiative zu ergreifen, bevor dies durch Gorbatschow geschah. Anschaulich hat Baker geschildert, wie er für diesen Zweck den sportlichen Wettbewerbsinstinkt des Präsidenten weckte, den er aus alter Tennispartnerschaft in Texas kannte. Bush hielt bei uns in Mainz eine bedeutende außenpolitische Rede, in der er die USA und die Bundesrepublik
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