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Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard von Weizsäcker
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Frage nach der Einheit der Deutschen an die Geschichte verwiesen habe. Für die verantwortlichen Politiker sei es ausschlaggebend, den Verlauf der Geschichte rechtzeitig zu begreifen. In diesem Sinne sei sein Ostberliner Ausspruch gemeint gewesen. Er habe damals in erster Linie zu sich selbst gesprochen.
    Unmittelbar nach dem Besuch von Gorbatschow kam es in zahlreichen Städten, wiederum vor allem in Leipzig, zu den größten und dramatischsten Protestkundgebungen: »Wir sind das Volk«, »Keine Gewalt«, »Wir bleiben hier« verkündeten die Transparente. Unvorstellbar war die Anspannung. Ganz Deutschland war am Bildschirm dabei. Uns allen, ob nah oder fern, stockte der Atem. Aber von keiner Seite fiel ein Schuß. Die sowjetische Führung hatte sich durchgerungen, unter allen Umständen ein Blutbad zu vermeiden, wie es die chinesische Führung kurz zuvor auf dem Tianan-Men-Platz in Peking angerichtet hatte. Die sowjetischen Truppen hatten Befehl, in der
Kaserne zu bleiben. Es waren die entscheidenden Stunden der friedlichen Revolution. Sie hatte es geschafft.
    Am 17. Oktober wurde Honecker gestürzt. Egon Krenz wurde sein Nachfolger. Sofort lauteten die Forderungen auf den Plakaten »Unbekrenzte Freiheit«. Am 4. November kam es zur größten Kundgebung in Berlin auf dem Alexanderplatz mit siebenhunderttausend Menschen. Sie war polizeilich genehmigt. Eine bunte Mischung aus Schriftstellern, einer Schauspielerin, einem Pfarrer und zwei führenden SED-Mitgliedern kam zu Wort. »Blumen statt Krenze«, »Rechtssicherheit spart Staatssicherheit« und »Das Volk sind wir - Gehen sollt Ihr« stand auf den Transparenten. Von deutscher Einheit war noch mit keinem Wort die Rede.
    Niemand wußte, wie es weitergehen würde. Kohl fuhr am 8. November zu einem mehrtägigen offiziellen Besuch nach Polen. Meinerseits ging ich verabredeten Terminen in Süddeutschland nach. Da gab am 9. November abends das Berliner SED-Politbüromitglied Schabowski kurz vor 19.00 Uhr bekannt, daß unverzüglich »Privatreisen nach dem Ausland« kurzfristig genehmigt würden. Nach 23.00 Uhr öffneten sich in Berlin die Schlagbäume. Noch in der Nacht drängten unzählige Menschen über die alten verhaßten Schranken. Die Freudenkundgebungen nahmen kein Ende. »Gestern nacht war das deutsche Volk das glücklichste Volk der Welt«, sagte der Regierende Bürgermeister Momper am 10. November vor dem Schöneberger Rathaus. Niemals davor und nie wieder danach habe ich es erlebt, daß sich über ein Ereignis auf deutschem Boden buchstäblich die ganze Welt von Herzen mit uns Deutschen freute.
    In den darauffolgenden Tagen, die ich in Berlin erlebte, sind mir drei Begegnungen in der lebhaftesten Erinnerung. Als erstes ging ich über die Glienicker Brücke. Sie führt über die Havel und ist die einzige Straßenverbindung zwischen Westberlin und Potsdam. Noch hermetischer als die Sektorenübergänge in der
Stadtmitte hatte sie uns jahrzehntelang in Westberlin eingeschnürt. Nur die vier Mächte konnten die Brücke benutzen. Hier hatte sich der berühmt gewordene Austausch zahlreicher Spione zwischen beiden Seiten vollzogen, unter ihnen der über der Sowjetunion abgeschossene amerikanische U-2-Pilot Powers. Aber auch der tapfere russische Dissident Scharanski ging diesen Weg in die Freiheit. Unzählige Male hatte ich mich an einer Gepflogenheit beteiligt, die sich in Westberlin ausgebildet hatte. Am Wochenende fuhr man die Potsdamer Chaussee in Richtung auf die Brücke, nur um dort quasi mit dem Kopf an die Barriere zu stoßen, dort, wo mitten auf der Brücke die Sperren und die unerträglichen Wachen lauerten, die uns den seit der Jugend gewohnten Zugang nach Potsdam, meiner alten Garnisionstadt, und in die Mark Brandenburg versperrten. Wir fühlten uns damals wie gefangene Tiere hinter Gitterstäben. Und nun strömten wir als Fußgänger hinüber und herüber mit ungläubig strahlenden Gesichtern und trugen unsere bewegten Herzen auf den Lippen. Es war, als ob jeder jeden kannte.
    In der Stadtmitte ging ich auf den Potsdamer Platz. Noch war es eine weite leere Fläche, von beiden Seiten durch Kontrollen bewacht. Ohne Begleitung überquerte ich vom Westen her eine Strecke von zweihundert Metern über den Platz in Richtung auf die andere Seite, wo die Baracke der Volkspolizei stand. Was würde nun passieren? Ein Wachkommando sah mich kommen und musterte mich mit dem Fernglas. Dann löste sich der Kommandoführer, ein Oberstleutnant, von seinem Trupp, ging auf

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