Vier Zeiten - Erinnerungen
ihre Hoffnungen zuletzt auf sie setzen, weil ihnen sonst niemand im Land zu helfen wußte. Bei jedem Gast oder jeder eigenen Reise informiert sie sich gründlich und gewissenhaft über Land und Leute, über die Geschichte und die aktuellen Probleme, die zur Sprache kommen.
Politikerleben und Präsidentenamt bedeuteten für meine Frau harte Arbeit. Als Schwerpunkt ihrer Aufgaben widmete sie sich der Hilfe für Familien zur Befreiung junger Menschen von der Geißel der Droge. Da die Suchtgefahr weit über Europa hinaus die ganze Welt bedrängt, hatte meine Frau auch auf jeder Auslandsreise damit zu tun.
Darüber hinaus bearbeitete meine Frau ein besonderes Aufgabenfeld,
das sie mit der Not in ungezählten Familien zusammenführte: mit der Drogensucht junger Menschen. Sie betreute den Elternkreis drogenabhängiger Jugendlicher und gründete den nach ihr benannten Fonds zur Wiedereingliederung ehemals Drogenabhängiger, bei dem es darum geht, denen wieder Arbeit, Wohnung, Schuldenbefreiung und überhaupt einen Platz in der Gesellschaft zu verschaffen, die sich mit großer Anstrengung aus eigener Kraft von der Geißel der Drogen befreit hatten. Diese nahezu weltweite Thematik brachte meine Frau bei jeder unserer zahlreichen Reisen mit den entsprechenden Problemen und Lösungsversuchen in anderen Ländern in Kontakt und füllte ihr Arbeitspensum zusätzlich an, oft tage- und nächtelang. Aus den Fragen mancher Medienvertreter hätte man schließen können, als ginge es für die Frau des Präsidenten vor allem um Kleider, Souvenirs und dergleichen. In Wahrheit leistet sie eine ebenso hochinteressante wie harte Arbeit, die maßgeblich dazu beiträgt, die Belange unseres Landes gut gelingen zu lassen, so wie es meine Frau auch diesmal wieder bei der geschilderten Begegnung mit Gorbatschow tat.
Vierter Abschnitt
Vereinigung
Die Mauer fällt
Die Ereignisse in der DDR überstürzten sich nun. Sie waren in der Hand des Volkes. Den politischen Führungen fiel es schwer, rasch zu reagieren, besonnen zu bleiben, nicht die Nerven zu verlieren. Gerade hatte Honecker bekräftigt, die Mauer werde auch in fünfzig Jahren oder in hundert Jahren noch stehen, sofern die Gründe für sie andauerten. Doch im Juni 1989 zerschnitten der ungarische Außenminister Horn und sein österreichischer Kollege Alois Mock bei Sopron symbolisch den Stacheldraht an der Grenze. Die »Urlauber«-Welle aus der DDR kam ins Rollen. Bald überfüllte sie die Botschaften der Bundesrepublik in Budapest, in Prag und in Warschau. Dort wuchsen die Probleme der Versorgung und Hygiene ins Unvorstellbare. Pausenlose Kontakte aus Bonn mit den betroffenen Regierungen, dramatische Verhandlungen unter aktiver Beteiligung des DDR-Anwalts Wolfgang Vogel in Prag und Ostberlin führten dazu, daß Genscher zusammen mit Seiters Ende September nach Prag reisen und den dort auf dem Botschaftsgelände dichtgedrängten Landsleuten die befreiende Nachricht überbringen konnte, daß ihr Weg in die Bundesrepublik nun offen sei. Es war einer der großen Wendepunkte.
Vor der Nikolaikirche in Leipzig formierten sich seit Anfang September die Montagsdemonstrationen. Auf ihren Transparenten stand »Reisefreiheit statt Massenflucht«. Bei der Witwe von Robert Havemann wurde am 9. September die erste landesweite Oppositionsbewegung »Neues Forum« gegründet, zu der unter anderem Bärbel Bohley und Jens Reich gehörten.
Zum vierzigsten Jahrestag der Gründung der DDR am 7. Oktober kam Gorbatschow nach Ostberlin. Noch einmal brach sein Konflikt mit Honecker über die Notwendigkeit der Reformen auf. Gorbatschow verstand nicht, warum man sich in Ostberlin dagegen sperrte, dem Beispiel anderer sozialistischer Länder zu folgen. Er dürfte unterschätzt haben, wieviel schwerer dies für die SED-Führung war als etwa für die Ungarn oder die Polen, weil es einer gesamtdeutschen Perspektive bedurfte, die die SED nicht wollen konnte.
Bei seiner Berliner Pressekonferenz sprach Gorbatschow mit seiner plastischen Diktion ganz beiläufig die Worte aus, die in unser aller Zitatenschatz eingegangen sind: »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.« Er hat mir später selber erzählt, daß er sich durchaus nicht bewußt gewesen sei, damit ein geflügeltes Wort zu prägen. Maßgeblich sei die Erkenntnis, daß die Geschichte selbst alles entscheide. Ihr dürfe man nicht vorgreifen, sie aber auch nicht verpassen. Schon bei seinem Gespräch mit mir im Kreml 1987 habe er dies gemeint, als er meine
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