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Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard von Weizsäcker
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mich zu, machte eine korrekte Ehrenbezeigung und sagte in ruhigem Ton: »Herr Bundespräsident, ich melde: keine besonderen Vorkommnisse.« Wir begrüßten uns, als wäre unsere Begegnung das Normalste der Welt, wo wir doch gerade ein Vorkommnis erlebten, das besonderer nicht hätte sein können.
    Am dritten Tag nach der Maueröffnung nahm ich am Sonntagsgottesdienst in der Gedächtniskirche teil. Sie war überfüllt mit Menschen aus Ost und West. Mein Bischof Martin Kruse,
dem ich aufs engste verbunden bin, bat mich, am Ende noch zu der Gemeinde zu sprechen. Es wurde eine unbeholfene Mischung von Laienandacht und Willkommensgruß für die Berliner aus beiden Teilen der Stadt anhand jenes mir vom Kirchentag ans Herz gewachsenen Paulus-Wortes an die Galater: »So bestehet nun in der Freiheit, zu der uns Christus befreit hat, und lasset Euch nicht wieder in ein knechtisches Joch einfangen. Ihr seid zur Freiheit berufen. Allein sehet zu, daß Ihr die Freiheit nicht mißbraucht, Euch selbst zu leben. Sondern durch die Liebe diene einer dem anderen.« Es ging mir bei diesen Worten nicht zuletzt um uns im Westen. An uns war es, mit weitgeöffneten Türen und Herzen bereit zu sein, statt mit der Tür drüben ins Haus zu fallen und unsere Urteile und Maßstäbe zu den einzig gültigen zu erklären. Nicht große Töne waren gefragt, sondern Hilfe. »Keiner von uns hat es immer schon gewußt - keiner von uns weiß, wie es weitergeht.« - »Das Volk weist der Politik den Weg. Wenn Politik eine Sache der Menschen ist, dann handelt sie von der Freiheit, nach der es den Menschen verlangt, aber damit zugleich auch von der Verantwortung, ohne die die Freiheit zum Chaos führt. Verantwortung bedeutet Solidarität untereinander, in der sich die Freiheit erfüllt - Liebe, wie wir als Christen sagen. - Laßt uns so in der Freiheit bestehen.« Zum ersten Mal klang damit das Signal der kommenden Zeit auf: Wer sich vereinigen will, muß teilen lernen.

    10. November 1989 auf dem Potsdamer Platz in Berlin. Die Mauer war offen, aber noch bewacht. Ich ging über den leeren Platz, als mir ein Offizier der Nationalen Volksarmee entgegenkam und meldete: »Herr Bundespräsident, ich melde: keine besonderen Vorkommnisse.« So schnell stand alles auf dem Kopf.

    Vor der Kirche herrschte ein unbeschreibliches Gedränge. Wir konnten uns nicht nach unserer östlichen oder westlichen Herkunft auseinandersortieren. Aber wir wollten es ja auch gar nicht. Man erdrückte und umsorgte sich gleichzeitig und gegenseitig. Keiner wollte nach Hause gehen. Alle waren bereit zu teilen.
    Die erste Wende in Deutschland war vollzogen. Noch war die zweite nicht klar erkennbar. Während das Ausland im dunkeln tappte, ergriff Kohl am 28. November im Bundestag mit seinem Zehnpunkteprogramm auf maßvolle Weise die Initiative. Teltschik hatte es mir am Tag zuvor eingehend erläutert. Kohl sprach von den Etappen, mit denen der Weg zur Einheit anzusteuern sei. Er bekundete die Bereitschaft, den vom neuen DDR-Ministerpräsidenten Modrow genannten Gedanken einer Vertragsgemeinschaft aufzugreifen. Darüber hinaus sollten »konföderative Strukturen zwischen beiden Staaten in Deutschland« mit dem Ziel einer Föderation entwickelt werden. Das politische Ziel sei die staatliche Einheit Deutschlands. Unterwegs dorthin könne korrekterweise heute niemand eine abschließende Antwort auf die vielen schwierigen Fragen geben, die sich stellten.
    Die Reaktion auf dieses Programm in den benachbarten Hauptstädten und bei den vier Mächten war zunächst zwiespältig. In Paris herrschte Irritation, weil Kohl drei Tage zuvor bei einem privaten Abendessen Mitterrand gegenüber nichts von
seinem Plan angedeutet hatte. Auch in Washington hätte man es vorgezogen, vorher und nicht erst sofort nach der Rede informiert zu werden. Außenminister Baker gab am folgenden Tag eine kluge Erklärung ab. Für eine Vereinigung der Deutschen sei der Weg der Selbstbestimmung maßgeblich; dabei sei die rechtliche Position und Verantwortung der Alliierten angemessen zu beachten. Die Vereinigung müsse graduell und friedlich erfolgen, der Kontext einer dauerhaften Verpflichtung Deutschlands zur Nato und zur Europäischen Gemeinschaft sei zu wahren; die Einheit solle also nicht durch Neutralismus erkauft werden. Schließlich sei die Unverletzlichkeit der Grenzen zu beachten, die Kohl nicht angesprochen habe. Baker zielte damit auf den fehlenden Bezug in Kohls zehn Punkten zur polnischen Westgrenze, der

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