Vier Zeiten - Erinnerungen
sich darüber hinaus persönlich in einer beispielhaften Weise um die inneren Verhältnisse der DDR gekümmert und ihre Chancen im europäischen Ensemble gefördert. Als ich ihn vor dem versammelten Bundestag und Bundes-rat
am Tag der Deutschen Einheit 1990 in Berlin offiziell begrüßte, wurde er von allen Seiten mit herzlicher und beinahe stürmischer Zustimmung willkommen geheißen.
Am 30. April 1992 sprach ich in Washington vor beiden Häusern des amerikanischen Kongresses. Ich dankte den Amerikanern für die entscheidende Hilfe bei der deutschen Vereinigung und appellierte eindringlich an sie, sich nach dem Ende des Kalten Krieges nicht aus den europäischen Angelegenheiten zurückzuziehen.
Unter den europäischen Staatslenkern dieser großen Zeit war die Rolle von François Mitterrand für uns von besonderem Gewicht. Bis in die Gegenwart ist zu hören, daß er versucht habe, sich mit Kunst und Tücke der deutschen Vereinigung zu widersetzen. Im Jahre 1996 gab es in dem von der klugen, gewissenhaften und großherzigen französischen Sprachmittlerin Brigitte Sauzay und dem deutschen Historiker Rudolf von Thadden gegründeten deutsch-französischen Zentrum in Genshagen bei Berlin eine Konferenz, auf der es vor allem um die französische Position im Jahr 1990 ging. Schon an der Tür wurde ich gleichzeitig
von französischen und deutschen Fernsehteams mit der Frage überfallen: »War Mitterrand dafür oder dagegen?« Eine vorgefaßte Meinung hatte sich festgesetzt, das war allseits zu spüren. Nach meinen persönlichen Erfahrungen mit ihm glaube ich, daß die kritischen Stimmen an seine Adresse in die Irre gehen. Sie beruhen auf einem Mangel eben jener historischen Urteilskraft und Weitsicht, über die Mitterrand verfügte.
Ohne Zweifel hatte er eine andere Perspektive als die Amerikaner und Russen. Unter jeder französischen Regierung hatte das Verhältnis zu Deutschland einen doppelten Boden. Allen war es ernst mit der Überwindung der alten Feindschaft und mit der europäischen Integration, auch wenn nicht alle französischen Präsidenten so überzeugte Europäer waren wie Mitterrand. Zugleich aber ging es Paris auch stets um Sicherung Frankreichs gegenüber den Deutschen. Gerade in diesem Punkt spielte für sie die Europäische Gemeinschaft mit dem eingebundenen Deutschland eine wichtige Rolle. So aufrichtig der prinzipielle französische Widerspruch gegen die Diktaturen im Osten und die erzwungene Teilung war, so schuf die Zweiteilung des Kontinents im Kalten Krieg doch auch eine weitere Sicherung. Kooperation und Kontrolle im Verhältnis zu uns bildeten für Paris ein dialektisches Verhältnis.
Als es nun ernst wurde mit der Aussicht auf eine deutsche Vereinigung, empfand es Mitterrand als seine Aufgabe, nichts zu überstürzen. Er fühlte sich im Interesse nicht nur seines eigenen Landes dafür verantwortlich, daß ein angemessener internationaler Rahmen geschaffen würde. Für die Größenordnung der Supermächte, zumal für das ferne Amerika, mochte es keinen qualitativen Unterschied machen, ob in der Mitte des Kontinents sechzig oder achtzig Millionen Deutsche staatlich vereint leben. Für Deutschlands europäische Nachbarn aber sah die Sache ganz anders aus. Bisher hatten Frankreich, Großbritannien und Italien ein der alten Bundesrepublik vergleichbares Volumen. Nun sollte Deutschland durch seine Vereinigung einen
alleinigen, prägnanten, quantitativen Vorsprung erhalten. Die als Sicherung und Vorrang empfundene oberste Souveränität der vier Mächte über Deutschland als Ganzes sollte beendet werden. Das war politisch, wirtschaftlich und psychologisch ein dicker Brocken. Die freudige Anteilnahme am Fall der Mauer war gänzlich frei von den berüchtigten französischen arrière-pensées beim Thema Deutschland. Die Begeisterung über seine werdende Einheit aber hielt sich in Grenzen. Wen durfte dies verwundern? Daraus läßt sich keine besondere Kritik an Mitterrand ableiten. Kein anderer französischer Präsident hätte es anders sehen und vor seinem Volk vertreten können.
Zwei Fragen waren es vor allem, die Mitterrand beschäftigten. Die eine betraf die nun erst recht notwendige feste Einbindung des größeren Deutschlands in Europa. Sie traf sich mit dem völlig einhelligen Wunsch aller politischen Richtungen in Deutschland. Die geschilderte Linie des Kommissionspräsidenten Delors hatte die volle Billigung Mitterrands.
Die andere Frage führte vorübergehend zu ernsteren Konflikten zwischen
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