Vier Zeiten - Erinnerungen
deutscher Nationalist sein, um den Vertrag als verhängnisvoll zu empfinden, zumal wenn man die ungeheure Wirkung der Hitlerschen Agitation gegen Versailles fürchtete.
Es gab ja auch bei den Alliierten entsprechende Stimmen. Als Delegationsführer des britischen Schatzamtes hatte der berühmte Ökonom John Maynard Keynes an den Friedensverhandlungen teilgenommen und sich mit seinen Vorstellungen geringerer deutscher Reparationslasten nicht durchgesetzt. Mit der ihm eigenen brillanten und spitzen Feder schrieb er das kürzeste und schärfste, wenn auch viel umstrittene Urteil über den Vertrag, indem er die drei verantwortlichen westlichen Staatsmänner in Versailles schilderte, den französischen Ministerpräsidenten Clemenceau, den britischen Premierminister Lloyd George und den amerikanischen Präsidenten Wilson: »These were the personalities of Paris - I forbear to mention other nations or lesser men: Clemenceau, aesthetically the noblest; the President, morally the most admirable; Lloyd George, intellectually
the subtlest. Out of their disparities and weaknesses the Treaty was born, child of the least worthy attributes of each of its parents, without nobility, without morality, without intellect« (The collected writings of John Maynard Keynes, volume X: Essays in Biography, Edition 1972, S. 26).
Es war kein Wunder, für niemanden im Ausland eine Überraschung, sondern beinahe eine Selbstverständlichkeit, daß deutsche Diplomaten, wie mein Vater, das klare Ziel einer Revisionspolitik gegenüber Versailles verfolgten, aber mit der unbedingten Priorität, dabei den Frieden zu bewahren. Noch ließ das Ausland zu, daß Hitler mit seinen ersten internationalen Erfolgen zu Hause für sich werben konnte. Wann würden die Ziele durch die Mittel, deren er sich im Inneren bediente, bis zur Unerträglichkeit diskreditiert? Würden ihm seine Etappensiege zu Kopf steigen? Würde er bald jede Weltkriegsgefahr für Hirngespinste erklären und kleine begrenzte Kriege dafür um so verlockender empfinden?
Der entscheidende Moment im beruflichen Leben meines Vater war gekommen, als er aus Bern abberufen und in Berlin Anfang 1938 noch einmal aufgefordert wurde, Staatssekretär des Auswärtigen Amtes zu werden. Inzwischen war Neurath durch Ribbentrop als Reichsaußenminister ersetzt worden. Mein Vater ging mit sich in der Tiefe seines Gewissens zu Rate. Die Frage trieb ihn in seiner ganzen Existenz um. Ehrgeiz hatte ihn nie entscheidend geprägt. Die Spitzenposition im Amt hatte Neurath ihm schon fünf Jahre früher und unter weit beruhigenderen äußeren Umständen angeboten, er hatte sie ausgeschlagen. Er beriet sich mit seinen Vertrauten und Freunden. Zu ihnen zählte der Generaloberst Ludwig Beck, der ihm sagte: Ein Generalstabschef könne mit seinem Rücktritt nicht bis zu einem Kriegsausbruch warten, denn dann sei es zu spät. Der leitende Diplomat dagegen müsse sein Amt wahrnehmen und bis zum letzten Tag ausharren, um zu versuchen, das Unheil abzuwenden.
Über den wahren Charakter der Nazis wußte mein Vater zuwenig,
und von den unsäglichen Verbrechen, die kommen sollten, ahnte er so gut wie nichts. In seinem ganzen Weltbild fehlte es an der Vorstellungskraft, die Dämonie des Bösen zu begreifen, wie sie bereits am Werk war. Um so zentraler konzentrierte er sich darauf, ob es wirklich noch eine Chance geben würde, das Gewicht des einigermaßen intakten Auswärtigen Amtes für den Frieden einzusetzen. Dies war in seinen Augen das einzige, zugleich am Ende das durchschlagende Argument, und so übernahm er die Aufgabe.
Wenige Monate darauf, im Frühherbst 1938, kam es zur ersten und, wie sich später zeigen sollte, zur letzten Probe aufs Exempel: zur sogenannten Sudetenkrise. Um Haaresbreite führte sie am Krieg vorbei. Heute ist es die so gut wie unbestrittene dezidierte Meinung, daß der Menschheit das größte Leid erspart geblieben wäre, wenn sich die Weltmächte damals nicht auf eine friedliche Lösung des Sudetenkonflikts durch das Münchener Abkommen eingelassen hätten. »München« ist zum Symbolwort für Schwäche und Verblendung geworden. Man braucht das Stichwort nur zu nennen, um jeden Gedanken an ein Nachgeben gegenüber Diktatoren als moralisch verwerflich und politisch selbstmörderisch zu entlarven. Man durchschaut das alles heute ganz genau. Aber weiß man denn in der jeweiligen historischen Situation immer so eindeutig wie die späteren, durch den Verlauf der Geschichte belehrten Generationen, was
Weitere Kostenlose Bücher