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Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard von Weizsäcker
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das Richtige ist, welche Folgen ein Standhalten oder Nachgeben haben wird, ob es überzeugende Mittelwege gibt?
    Und wie war es damals? Das Dilemma für die französische und vor allem für die britische Haltung ist durch die zeitgeschichtliche Forschung vielfach behandelt worden. Fest steht, daß der Aufstieg Churchills zur Leitfigur des Widerstandes gegen die Hitlersche Bedrohung eine Folge der Demontage des britischen Premierministers Chamberlain war, der das Münchener Abkommen unterschrieben hatte.
    In Deutschland gab es drei Gruppierungen. Die eine war die
Kriegspartei. Hitler wollte unbedingt das Sudetenland und mehr als das; wenn die kriegerische Auseinandersetzung doch unvermeidlich würde, so wollte er sie rasch auf sich nehmen. Neben Himmler drängte vor allem Ribbentrop auf Gewalt. Goebbels, der aus seinem Hause beobachtet hatte, wie eine Wehrmachtsabteilung im Vorbeimarsch auf der Wilhelmstraße von der Berliner Bevölkerung mit spürbar schweigender Reserve begleitet worden war, verhielt sich vorsichtiger.
    Der Kriegspartei entgegengesetzt stand der sich erstmals formierende aktive Widerstand, zu dem die Generale Beck, Halder und Witzleben, Admiral Canaris und Oberstleutnant Oster gehörten, daneben eine Reihe von Diplomaten, unter ihnen Adam von Trott und Albrecht Haushofer. Ihr Ziel war es, Hitler im Falle einer kriegerischen Zuspitzung der Sudetenkrise unter Ausnutzung der besorgten Stimmung in der Bevölkerung mit Gewalt auszuschalten. Mein Vater stand in enger beratender Verbindung mit ihnen. Haushofer nannte ihn das »nichteingeschriebene Mitglied« der Gruppe.
    Zugleich aber war er während der ganzen Sudetenkrise in voller diplomatischer Aktion, wie vorher und nachher nie wieder. Er verkörperte die dritte Richtung: Frieden erhalten, koste es, was es wolle. Mit Henderson und Attolico, dem britischen und dem italienischen Botschafter, und mit seinem Freunde Carl Burckhardt, damals Hoher Kommissar des Völkerbundes in Danzig, konspirierte er aufs engste. Es gelang nach dramatischen Tagen, Hitler zu einem kleinen, zunächst noch unzureichenden Einlenken gegenüber Chamberlain zu bewegen, schließlich Mussolini in letzter Stunde einen Kompromißvorschlag zuzuspielen, den dieser beim Treffen der europäischen »Großen Vier« zur erfolgreichen Grundlage des Münchener Abkommens zu machen wußte. Ribbentrop kochte, alles hatte sich hinter seinem Rücken abgespielt. Hitler war später noch lange wütend, daß er, wie er meinte, zurückgewichen war. Bis in die zweite Kriegshälfte hinein bezeichnete er sein Nachgeben in München als seinen größten außenpolitischen Fehler. Chamberlain und Daladier dagegen fuhren erleichtert davon. Überall in der Welt wurden die Bilder gezeigt, wie die beiden Staatsmänner zu Hause gefeiert wurden: »Peace in our time«.

    Um einen kriegerischen Ausgang der Münchner Konferenz 1938 zu verhindern, arbeitete mein Vater (zweiter von links) eng mit dem italienischen Botschafter Bernardo Attolico (links), dem britischen Botschafter Neville Henderson (Mitte rechts) und dem französischen Botschafter André François-Poncet (rechts) zusammen, gegen den Willen Hitlers, der noch Jahre später sein »Nachgeben« in München als seinen größten Fehler bezeichnete.

    Meinem Vater war einfach eine Zentnerlast vom Herzen gefallen. Sein enger Vertrauter und Mitarbeiter, der aktiv zur Widerstandsgruppe gehörende Erich Kordt, sagte ihm über das Münchener Abkommen nur: »Die zweitbeste Lösung.«
    Wer will über wen den Stab brechen? Angesichts der allzu schweren Erfahrungen sind wir heute zu der Überzeugung gelangt, daß man internationale Erpressungsmanöver von Gewaltherrschern nur dann eindämmen oder verhüten kann, wenn man kein Vertrauen auf ihre Versprechen für künftiges Wohlverhalten setzt und sich von ihnen auch nicht partiell unter Druck setzen läßt. München ist und bleibt die historische Warntafel. Davon bin ich ebenso überzeugt, wie ich der Haltung meines Vater in jenen Tagen ohne Einschränkung mit Achtung gedenke.
    In seiner damaligen Gegenwart sah er das, was kommen sollte, nicht voraus. Zur Zeit der Sudetenkrise rechnete er mit dem unmittelbar bevorstehenden Krieg, und das war es, was er am allermeisten fürchtete. Mit jeder Faser seines Wesens empfand er im Greuel und Leid eines Krieges das größte Unheil für die Menschen. Zu schrecklich hatte schon der Erste Weltkrieg im Lebensglück seiner Generation und Familie gewütet. Wahr ist, daß mein Vater auf

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