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Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard von Weizsäcker
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eine Veränderung bestimmter Teile des Versailler Vertrages hinarbeitete und insoweit auch diplomatischen Druck als legitim ansah. Wahr ist aber auch, daß er zu keiner Sekunde bereit war, für die Revisionspolitik Gewalt zu riskieren.
    Ohne Hoffnung auf die Chance, eine aktive Rolle bei der Verhinderung eines Krieges spielen zu können, hätte er seinen Posten an der Spitze der deutschen Diplomatie nicht angetreten. Solange er die Mittel dazu in seinem Amt fand, setzte er sie ein. Sein Einfluß während der Sudetenkrise war einigermaßen zentral. Unmittelbar nachdem man am Abgrund des Krieges vorbeigeschlittert
war, schrieb er: »Eine Entspannung ohnegleichen; die Kinder, das Leben - alles war einem wie neu geschenkt.«
    »Gedenkt unser mit Nachsicht«, ruft Bert Brecht den Nachgeborenen zu - dann nämlich, »wenn es soweit sein wird, daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist«. Sind wir das geworden? Zur Nachsicht gehört die Einsicht, daß die Kenntnis der Geschichte von uns verlangt, damaliges mit heutigem Bewußtsein nicht gleichzusetzen. Nichts ist vergleichbar mit früher, doch die Bitte um Nachsicht wandert von Generation zu Generation weiter. Für meinen Vater war München der letzte glückliche Tag seines Lebens. So hatte er es empfunden und aufgeschrieben. Täglich spürten wir zu Hause, wie ernst und schweigsam er danach wurde.
    Der letzte glückliche Tag, denn alsbald danach spitzte sich die Lage von neuem und nun unaufhaltsam zu. Zunächst im Inneren: Es kamen die Pogrome des 9. November 1938 gegen die Juden. Wer sie mit angesehen hat, wie ich damals als Achtzehnjähriger rund um die Gedächtniskirche in Berlin, der konnte die Fratzen organisierter Brutalität nicht vergessen. Die meisten Passanten gingen, wie ich, an den zertrümmerten Geschäftsauslagen stumm und fassungslos vorbei. Die Verfolgung der Kirchen nahm zu. Mehrfach intervenierte meine Mutter vergeblich bei Himmler zugunsten von Niemöller. Himmler antwortete ihr sinngemäß: »Wir werden nicht ruhen, bis das Christentum vernichtet ist. Es ist eine Krankheit.« Einmal fuhr sie mit einem befreundeten Theologen in die brandenburgische Schorfheide nach Karinhall zu Göring, um für die Freilassung von Pfarrern einzutreten. Görings Frau hatte das Treffen ermöglicht. Doch Göring antwortete brüsk mit Nein, verließ das Zimmer, um sich freilich kurz darauf noch einmal mit einer einlenkenden Bemerkung an der Tür zu zeigen und zwei kleine Päckchen Kaffee für die Besucher zu hinterlassen, zum Zorn meiner Mutter. Wie es damals zuging, das ist für heutige Begriffe unbeschreiblich.

    Das Spitzel- und Überwachungssystem wurde immer perfekter. In Notizen und Familienbriefen kam es bei uns zu simplen Tarnmitteln. Ein Gedankenstrich am Ende des Satzes bedeutete, daß das genaue Gegenteil des geschriebenen Textes gemeint war. Hitler hieß bei uns in unserer Korrespondenz Pfeifer, Himmler Engelke, Niemöller Immermeier, Italien Tante Camilla usw. Als mein Vater einmal wegen eines kleinen Eingriffs im Krankenhaus unter Narkose gesetzt werden mußte, wachte meine Mutter an seinem Bett, um ihm ins Wort zu fallen, falls er im Ätherrausch unkontrolliert reden würde.
    Die entscheidende außenpolitische Wendung kam, als Hitler unter Bruch des Münchener Abkommens im Frühjahr 1939 in Prag einmarschierte. Nun waren die Würfel in London endgültig gefallen. Jedes weitere westliche Nachgeben gegenüber Hitler wurde undenkbar. Polen erhielt eine Garantie der Westmächte. Mein Vater war noch wochenlang verzweifelt damit beschäftigt, Hitler und Ribbentrop von der vollkommenen Unausweichlichkeit einer britischen und französischen Kriegserklärung im Falle von deutschen Gewaltakten gegen Polen zu überzeugen. Aber das Unheil brach herein. Um seines bei der Sudetenkrise noch erfolgreichen Einflusses willen hatte mein Vater in diesen Monaten und Wochen vergeblich das Odium auf sich genommen, im Amt der Machthaber geblieben zu sein. Nun war, wie er schrieb, der Sinn seiner Arbeit zerstört.
    Am Tage vor Kriegsausbruch notierte meine Mutter: »Kann Gott zulassen, daß ein Mensch diese Katastrophe über Deutschland und ganz Europa bringt? Und unsere Söhne? Keinen, keinen bin ich bereit, für diesen Krieg zu opfern. Der Ring der Familie, der unendliche Reichtum in den Kindern, unser ganzer Stolz - ich weiß es doch vom letzten Krieg, was das Wort heißt: Vergangen. Dann geht das Leben weiter, und nie, nie mehr kommt zurück, was unser war. Neue Menschen kommen,

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