Vier Zeiten - Erinnerungen
nie ganz das hohe Niveau der Klasse, dafür wurde ich ein ganz passabler Mittelstreckenläufer, auch wenn es mir nie gelang, über 800 Meter die Zweiminutengrenze zu unterbieten.
Trotz mancher Giftpfeile über die Grenze hinweg beschäftigten meinen Vater weniger die Sorgen um die bilateralen Beziehungen, die zunächst einigermaßen normal blieben, als vielmehr die innere Entwicklung in Deutschland und ihre Auswirkung auf die internationale Lage. Am 1. April 1933 hatte er zum ersten Mal eingeschlagene Fensterscheiben jüdischer Geschäfte in Altona mit eigenen Augen gesehen und uns dies in tiefer Erregung berichtet. In einer Kirche in Berlin-Tiergarten erlebte er, wie bei einer Feier die Hakenkreuzfahne neben den Altar gestellt wurde. Das Ermächtigungsgesetz war erlassen. Der sogenannte Reichsbischof Müller sollte die Evangelische Kirche leiten. Im Widerstand dagegen formierte sich die Bekennende Kirche mit ihrer grundlegenden Barmer Erklärung. Pastor Niemöller wurde zum ersten Mal verhaftet. In Württemberg standen sich der Parteistatthalter Murr und der evangelische Bischof Wurm gegenüber und bald hieß es: Es wurmt den Murr, daß der Wurm murrt.
Am 17. Juni 1934 hielt Papen, noch Vizekanzler, seine für damalige Begriffe kühne Marburger Rede. Er wandte sich gegen den »widernatürlichen Totalitätsanspruch«, gegen das Plebejertum und den ungezügelten Radikalismus der nationalsozialistischen Revolution und sagte: »Kein Volk kann sich den ewigen Aufstand von unten leisten, wenn es vor der Geschichte bestehen
will. Einmal muß die Bewegung zu Ende kommen, einmal ein festes soziales Gefüge, zusammengehalten durch eine unbeeinflußbare Rechtspflege und durch eine unbestrittene Staatsgewalt, entstehen. Mit ewiger Dynamik kann nichts gestaltet werden. Deutschland darf nicht ein Zug ins Blaue werden.« Goebbels verbot sofort den Abdruck der Rede.
Es folgten Machtkampf und Massaker am 30. Juni 1934, aus Anlaß des sogenannten Röhm-Putsches, den Hitler und Himmler dazu benutzten, sowohl selektiv als auch wahllos verhaften und morden zu lassen. Unter den Opfern war auch Edgar Jung, der die Marburger Rede für Papen entworfen hatte. Elementarste Regeln des Rechtsstaates wurden öffentlich mit Füßen getreten. Ich erinnere mich der aufgewühlten Empfindungen meiner Eltern an diesem Tage genau. Sie hatten mir eindringlich erklärt, was da im Gange war, und mich beauftragt, den ganzen Tag Radio zu hören und ihnen jede Nachricht sofort zu melden.
Kurze Zeit darauf wurde bei einem nationalsozialistischen Putschversuch der österreichische Bundeskanzler und Außenminister Dollfuß in Wien ermordet. Am 2. August 1934 starb der Reichspräsident Hindenburg, der noch einen Rest von Respekt und politischem Anstand um sich verbreitet hatte.
Indessen reagierte das Ausland auf das neue Hitler-Deutschland überwiegend zögerlich, in vielen Fällen geradezu kooperativ. Man nahm den Austritt aus dem Völkerbund und die Wiedereinführung der Wehrpflicht hin, später selbst die Wiederbesetzung des Rheinlandes. Hitler erreichte ein Flottenabkommen mit Großbritannien, ein neues Konkordat mit dem Vatikan und erzielte eine Verständigung mit Polen.
Im auswärtigen Dienst rangen die Kollegen um guten Rat. Die nationalsozialistische Führung verhielt sich gegenüber den Berufsdiplomaten zunächst doppeldeutig. Einerseits wollte man »Köpfe rollen« lassen, was ein vertrauter Kollege meinem Vater gegenüber lakonisch mit der Frage kommentierte: »Wo sind denn die Köpfe im Amt?« Andererseits wollte man möglichen
internationalen Gefahren mit Hilfe der geschulten Kräfte vorbeugen.
Für die Diplomaten wuchs die Anspannung immer mehr. Vielen von ihnen, wie meinem Vater, war die Scharfmacherei der neuen Machthaber mit ihren rücksichtslosen internationalen Kraftakten ein Greuel. Zugleich waren sie aber deutsche Patrioten. Sie hatten die Friedensbedingungen am Ende des ersten Krieges weitgehend als unmoralisch und als auf die Dauer politisch unhaltbar empfunden. Gewiß, Sieger sind fast immer verblendet, zumal mit ihrer Sucht nach Reparationszahlungen, für die auch das Deutsche Reich vorsorglich bereits 1914 gewaltige Summen zu Lasten der noch zu besiegenden Gegner geplant hatte. Zwar waren bis 1930 schon manche der schweren Bedingungen des Versailler Vertrages erfüllt und erledigt, aber am Kern der allgemeinen und verständlichen Empfindungen in Deutschland gegenüber Versailles änderte dies wenig. Man mußte kein reaktionärer
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