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Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard von Weizsäcker
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die nicht gekannt haben die, die unser Stolz waren.«
    In ihrer heißen Liebe zu uns schrieb sie es auf. Am folgenden
Morgen brach der Krieg los. Und am Tag darauf, am 2. September 1939, fiel im polnischen Korridor in der Tucheler Heide mein Bruder Heinrich, ihr zweiter Sohn.

Abitur in Berlin; Studium in Oxford und Grenoble
    Noch einmal richte ich den Blick zurück ins Jahr 1937, um von eigenen Erlebnissen zu erzählen. Im Frühjahr waren in Deutschland auch schon für die Unterprimaner Abiturprüfungen angesetzt. Ihnen wurde die Oberprima erlassen, um des Nachwuchses für die Wehrmacht willen. Im Januar 1937 verließ ich die mir liebgewordene Berner Schule und verbrachte die letzten drei Monate in meiner alten Klasse des Bismarck-Gymnasiums. Mein Wahlfach für das Abitur war Geschichte, mein Wahlthema die Französische Revolution. Sie bildete ein klassisches Kontrastprogramm zur Realität und Stimmung im Deutschland unter Hitler. Pflichtprüfungsfach für die ganze Klasse aber war Biologie. Wir sollten unsere Kenntnisse in der von der NSDAP zum Glaubenssatz erhobenen Vererbungslehre und Rassenideologie nachweisen. Das paßte uns so wenig wie unserem Biologielehrer. So kam es vor der Prüfung zu einer veritablen Konspiration zwischen Lehrer und Schülern über Fragen und Antworten. Er wollte uns schonen und sich selbst keine pseudowissenschaftlichen Bekenntnisse abverlangen. Auch sonst herrschte an der Schule ein guter Geist. Unsere jüdischen Mitschüler zählten zu den Klassenbesten, und unsere aufrechten Lehrer erkämpften für sie in der Zensurenkonferenz einigermaßen faire Abschlußnoten.
    Mein eigenes Abitur war mir nicht nur durch den vorzüglichen Berner Unterricht erleichtert, sondern auch durch den noch keineswegs verblaßten Ruhm meines Bruders Carl Friedrich, der dort acht Jahre früher sein Abitur glanzvoll bestanden
hatte. So blieben meine mathematischen Schwächen weitgehend unentdeckt. Zur Beruhigung meiner Nerven hatte sich überdies meine Mutter für den Nachmittag vor der Prüfung ein wirksames Mittel ausgedacht: Wir besuchten stundenlang den geliebten Berliner Zoo. Das rückte die Maßstäbe zurecht. Die Mienen der gefürchteten Lehrer verloren ihren bedrohlichen Charakter dank frappierender Ähnlichkeiten mit ganz anderen Lebewesen. Am Ende ging alles ziemlich einfach über die Bühne.
    Obwohl nun im Besitz des »Reifezeugnisses«, war es doch mit meiner Reife nicht weit her. Ich war noch nicht ganz siebzehn Jahre alt und daher auch für den vorgeschriebenen Arbeitsund Wehrdienst noch zu jung. Durch ein Austauschprogramm erhielt ich den für damalige junge Deutsche ganz außergewöhnlichen Vorzug, zwei Semester im Ausland studieren zu können. Zunächst ging es für ein halbes Jahr nach England. In Oxford lernte ich so manche der unnachahmlichen britischen Eigenschaften kennen. Ich erlebte die dortigen Studenten als fair und unaufgeregt, hilfsbereit und oft ganz ungeniert hochmütig, behäbig am Anfang, aber im »finish« überlegen. Sie wirkten konziliant und kannten doch ganz genau die Grenze, jenseits deren sie sich zu keinem Kompromiß mehr bewegen ließen. Wenn sie, wie bei großen Universitätsfeiern, ihr Oxfordlatein sprachen, hielten es alle gebildeten Humanisten des Kontinents für einen britischen Dialekt.
    Mit Feuereifer kämpften sie für die Notwendigkeit einer moralischen Politik, ohne auch nur die geringsten Skrupel gegenüber dem »right or wrong my country« zu empfinden. Ein Landarzt in Wiltshire, bei dem ich zwei herrliche Sommerferienmonate zubrachte und der nebenher eine in Großbritannien gar nicht so seltene, uneingeschränkte Bewunderung für Napoleon hegte, stritt mit mir den ganzen Sommer Abend für Abend über den Kriegsausbruch 1914. Hätten die Deutschen nicht die belgische Neutralität verletzt, so meinte er, wären die Engländer niemals in den Krieg mit uns eingetreten. Es gibt Fragen, wo
ein Engländer unfähig ist zu zweifeln, insbesondere an sich selbst.
    Überdies war ihm seine Gastgeberpflicht mir gegenüber ebensowenig zweifelhaft. Man war dort auf dem Land während der Schul- und Semesterferien beinahe täglich in die Nachbarschaft zum Tee und zu Spielen eingeladen. Einige dieser Nachbarn bedeuteten dem Arzt, er sei mit seiner Familie wie stets willkommen, aber natürlich nur ohne jenen Jüngling aus dem deutschen Barbarenland. So entsprach es der Stimmung im Land. Mein Wirt erklärte ebenso regelmäßig, es sei vollkommen selbstverständlich, daß seine

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