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Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard von Weizsäcker
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fünfzig Mann starken Zug war ich der einzige Abiturient. Gleichwohl entwickelte sich eine pädagogisch und menschlich für mich wertvolle Kameradschaft. Meine Stütze war vor allem eine kleine Gruppe von Berliner Ofensetzern, die mich in wichtige Geheimnisse des Lebens einweihten. Sie amüsierten sich über meine Aufklärungs- und Erziehungslücken im Verhältnis von Männlein und Weiblein, waren aber mitfühlend bereit, mich aus dem Zustand der Unwissenheit zu befreien.

Rekrut; Kriegsausbruch, Tod des Bruders
    Im Herbst 1938 wurde ich Rekrut in einer Maschinengewehrkompanie des Potsdamer Infanterieregiments 9. Mein Bruder Heinrich war dort schon zwei Jahre zuvor als Fahnenjunker eingetreten und mittlerweile Leutnant geworden. Seine Liebe und Berufsabsicht hatten zwar dem Mittelalter gegolten, vor allem der Zeit des Stauferkaisers Friedrich II. Doch wollte er sich der politischen Indoktrination durch die zunehmende braune Ideologie im Geschichtsstudium nicht aussetzen. Deshalb entschied er sich für die Offizierslaufbahn.
    Mit seinen geistigen Interessen und seiner schwäbischen Herkunft wirkte er in diesem ausgeprägt preußisch-traditionellen Regiment wie ein Außenseiter. Die Überlieferung im Potsdamer Offizierskasino war national-konservativ. Man war dort froh über die Förderung und das neue Ansehen der Soldaten. Hatte nicht Hindenburg schon am 21. März 1933, dem sogenannten Tag von Potsdam, Hitler aufs Preußentum getauft und eingeschworen -unter den präsentierten Gewehren des Regiments?
    Je weiter die Zeit fortschritt, desto klarer zeigte sich jedoch, daß man in Potsdam nicht ganz vergessen hatte, was wirklich als preußisch gelten durfte. Am Kamin des Kasinos sprachen die jungen Offiziere, einer alten preußischen Tradition folgend, offen miteinander, offener als draußen. Zu Preußen gehörte der Rechtsstaat. Die willkürlichen Verhaftungen und Bluttaten der SA und SS am 30. Juni 1934 waren im Regiment als schwere Verstöße empfunden worden. Über die vulgäre Tonart der Parteigrößen wurde verächtlich geurteilt. Man fühlte sich als »Republik der freien Grenadiere«.
    Es half aber nichts. Die Soldaten wuchsen unausweichlich in einen Widerspruch hinein. Auf der einen Seite wurde das Regiment für viele zum Refugium vor der Propaganda und Infiltration durch die verpönte Partei. Auch wenn der bekannte Ausspruch von Gottfried Benn, wonach die Armee die aristo-kratische Form der Emigration gewesen sei, ganz gewiß nicht verallgemeinert werden darf - auf manchen wachen jungen »Neuner« traf er zu. Andererseits aber bekannte man sich zur Wiederherstellung der Wehrmacht und zu einem Soldatentum als Leitbild der Gesellschaft, geprägt durch das Pflichtgefühl für den Staat und gebunden durch den Eid, den Hitler mit sicherem Instinkt sofort nach Hindenburgs Tod auf sich hatte leisten lassen, selbstverständlich auch in Potsdam.

    Das Infanterieregiment 9 beim Aufmarsch in Potsdam 1938. Mein Bruder Heinrich marschiert hier als Leutnant hinter den beiden Fahnenreihen. Heinrich hatte eigentlich Geschichte studieren wollen, aber um der nationalsozialistischen Indoktrinierung zu entgehen, war er zu dieser traditionsreichen Truppe gestoßen, die sich als »Republik der freien Grenadiere« fühlte. Im Hintergrund der Turm der vom Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. 1735 fertiggestellten Potsdamer Garnisonkirche.
    Vor den Kasernen spielten die Glocken der Garnisonkirche zu jeder Stunde »Üb immer Treu und Redlichkeit«. Redliche Treue wozu? Zur Tradition? Oder zur neuen Zeit? Loyalität oder Distanz? Bei meinen Vorgesetzten erlebte ich eine Mischung
von beidem. Einer von ihnen war mein eigener Kompaniechef, Oberleutnant Ekkehard von Ardenne, überdies ein Enkel jener Frau, die vielen von uns als »Effi Briest« ans Herz gewachsen ist, dank der Schilderung ihres Schicksals im Roman von Theodor Fontane. Befehlsgemäß mußte Ardenne die Truppe zum Gedenken an den Marsch von Hitler und Ludendorff am 9. November 1923 auf die Münchner Feldherrenhalle antreten lassen. Das paßte ihm gar nicht. Also sprach er ausführlich über den 9. November 1918 als das Ende des Ersten Weltkrieges und fügte zum Schluß nur knapp hinzu: »Was sich am 9. November 1923 zugetragen hat, das können Sie den Zeitungen entnehmen.« Es hätte für ihn gefährlich werden können, wenn jemand ihn angezeigt hätte.
    Ein anderer unter den jüngeren Offizieren tonangebender Mann war Hauptmann Graf Baudissin. Er fungierte in der

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