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Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard von Weizsäcker
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Familie entweder mit dem Gast oder gar nicht kommen würde. Ohne geringstes Zögern und ohne es mir gegenüber je zu erwähnen, nahm er vorübergehende nachbarschaftliche Entfremdungen um der heiligen Gastfreundschaft willen in Kauf.
    Nur einen Deutschen habe ich 1937 in England erlebt, dessen Ansehen auf der Insel völlig unangefochten war: den Tennisbaron Gottfried von Cramm im Wimbledon-Finale. Mit der Kombination seines zähen Sportgeistes und seiner bezwingend liebenswürdigen Fairneß legte er für den deutschen Namen Ehre ein.
    Die Tradition und Pracht der britischen Monarchie erlebte ich beim Krönungszug von König Georg VI. und seiner Frau, der Königin Elisabeth, der heutigen Königinmutter. Den größten Beifall in dem Geleitzug der Kutschen erhielt Lord Baldwin, der Premierminister, der die Fäden gezogen hatte, um den älteren Bruder Georgs VI., Eduard VIII., wegen seiner Verbindung mit Mrs. Simpson zum Thronverzicht zu bewegen.
    Im Winterhalbjahr 1937/38 ging es an die französische Universität Grenoble. Dort war ein internationales Studentenvolk versammelt, um Französisch zu lernen. Der Ort bot die ideale Gelegenheit, die Verhaltensunterschiede der Kulturen zu beobachten. Als wir zum Semesterschluß in einem großen Hörsaal eine gemeinsame Abschlußarbeit geschrieben hatten, zeigte
sich, daß die meisten Angelsachsen und Skandinavier durchgefallen waren, die Südländer und Südosteuropäer dagegen glanzvoll bestanden hatten. Der Grund war einfach: Die einen hatten die Vorschriften diszipliniert eingehalten, keinerlei Hilfsmittel benutzt und nicht voneinander abgeschrieben. Die Südländer und Balkanvölker dagegen waren mit Lexika, Spickzetteln und mündlichen Hilfsmitteln aller Art ans Werk gegangen. Natürlich hatten sie keinen schlechteren Charakter, sondern nur andere anerzogene Gewohnheiten.
    Für mich waren es aufregende, freie Monate, die ersten fern von zu Hause. Von der Politik nur wenig berührt, begab ich mich auf Entdeckungsreisen in das Erwachsenwerden, was nicht immer ein leichtes Unterfangen ist. Schwankend in seinen Stimmungen und uneins mit sich selbst, versucht man, erwachsener zu wirken, als man es ist. Hinzu kamen bei mir die Folgen einiger traditioneller Erziehungsmaximen von Elternhaus und Schule. Sie überließen es der Phantasie, dem Studium von Lexika und vorsichtigen eigenen Spähtrupps, das unheimliche Rätsel zu ergründen, das in der Aufteilung von Menschen in männlich und weiblich begründet ist. Kein Wunder, daß man heute in das auch nicht immer besonders hilfreiche Gegenteil einer allzu frühen, tabulosen Aufklärung verfallen ist. Jugendzeiten sind herrlich und doch nicht immer nur beneidenswert.
    Wenn es ernst wird, finden sich die Maßstäbe leichter. Im Auftrag des deutschen Konsuls mußte ich in Lyon einen französischen Arzt aufsuchen, der mich für die deutsche Wehrmacht gesundheitlich zu mustern hatte. Was er also pflichtgemäß tat, war, mir zu bescheinigen, daß ich die körperliche Fähigkeit hatte, gegen Frankreich in den Krieg zu ziehen. So geordnet ging es zwischen zwei Staaten damals zu, die sich auf einen neuen Waffengang gegeneinander vorbereiteten.
    Ich kehrte nach Deutschland zurück, wo ich vor Ableistung des Arbeits- und Wehrdienstes nicht weiterstudieren durfte. Also zog ich die Uniform an. Es sollte sieben Jahre dauern, bis ich sie wieder los wurde.

Reichsarbeitsdienst
    An die Vorgesetzten im Arbeitsdienst habe ich keine guten Erinnerungen. Viele von ihnen hatte es dorthin verschlagen, weil sie den Anforderungen der Wehrmacht auf Anhieb nicht genügt hatten. Das meiste wurde auf primitive Weise dem Militär nachgemacht. In Ermangelung von Schußwaffen wurde der Spaten zum geheiligten Objekt des Exerzierreglements. Jeder hatte neben dem Arbeitsspaten einen zweiten, spiegelblank geputzten Spaten, mit dem wie mit einem Gewehr hantiert wurde. Wir mußten üben, ihn zu präsentieren, daß es in der Sonne nur so blitzte. Ebensogut hätte man auch einen Besen präsentieren können. Doch mein Zugführer gab uns den weltanschaulichen Unterricht dazu: »Alles, was wir von der Geschichte wissen, verdanken wir den Ausgrabungen. Sie werden mit dem Spaten gemacht. Die Geschichte ist also nichts anders als die Geschichte des Spatens.«
    Wir waren zum Roden von Baumstubben und zum Anpflanzen von Schonungen in der Schorfheide am Werbellinsee nördlich von Berlin eingesetzt, aber ich glaube nicht, daß viele unserer Tännlinge groß geworden sind. In meinem

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