Vier Zeiten - Erinnerungen
Es war eines der höchst seltenen Regierungsbündnisse, dessen Leistungen eher unterschätzt als, wie sonst üblich, überbewertet wurden. Zugleich bereiteten sich alle Parteien auf die nächste Bundestagswahl im Herbst 1969 vor. Der Termin der Präsidentenwahl, sechs Monate davor gelegen, konnte zur entscheidenden Weichenstellung werden.
Die Atmosphäre unter den Parteien der großen Koalition war, wie schon erwähnt, von erheblichen Schwankungen geprägt. Während die beiden Fraktionsvorsitzenden im Bundestag, Rainer Barzel und Helmut Schmidt, je länger, desto kompetenter, zuverlässiger und persönlich geradezu freundschaftlicher zusammenarbeiteten, war das Verhältnis von Kanzler Kiesinger und Vizekanzler Brandt im allgemeinen gespannt. Kiesinger
hielt sich lieber an Wehner. Die zweite Amtszeit Lübkes war wesentlich unter Wehners Einfluß zustande gekommen. Sie wurde im Laufe der Jahre zur schweren Last für Lübke, diesen aufrechten, sehr politischen Präsidenten, dessen schlechter Gesundheitszustand gegen Ende seiner Amtszeit ganz zu Unrecht sein früheres Wirken überschattete.
Schon im Sommer 1967, beinahe zwei Jahre vor der Wahl des Nachfolgers, teilte Brandt als Vorsitzender seiner Partei dem CDU-Vorsitzenden und Bundeskanzler Kiesinger mit, die SPD beabsichtige, für das Präsidentenamt einen eigenen Kandidaten zur Wahl zu stellen.
Aber wen? Es gab vielerlei Spekulationen. Ein häufig genannter Name war Georg Leber, der zu Recht auch bei der Union hohes Ansehen genoß. Es gab jedoch auch wachsende interne Widerstände bei der Sozialdemokratie gegen ihn. Viele hielten ihn für ein zu klares Präjudiz im Sinne einer Verlängerung der großen Koalition.
Deutlich erinnere ich mich, frühzeitig bei internen Gesprächen den Namen Gustav Heinemann gehört zu haben. Ehe die Führung der SPD sich dazu vernehmen ließ, äußerte ich 1967 bei einem Pressegespräch die Vermutung, die Sozialdemokratie werde sich wohl auf Heinemann einigen, weil er ein glaubwürdiger Kandidat in den Turbulenzen der Zeit sei. Wie ich vermute, war ich der erste, der dies öffentlich aussprach. Dabei hatte ich keinen Schimmer einer Information darüber, wie sich die Führung der Unionsparteien zur Nachfolge Lübkes einlassen werde.
Inzwischen begann die FDP, sich zu rühren. Mit der großen Chance, als kleine Partei die Rolle der Opposition allein zu spielen, taktierte sie gegenüber der Regierung der großen Koalition relativ glücklos. Nicht ihr galt das Hauptaugenmerk der Öffentlichkeit, sondern einer sich bildenden außerparlamentarischen Opposition, der Jugendrevolte. Die FDP wollte aber nach der nächsten Wahl unbedingt wieder mitregieren. Als Zünglein an der Waage wollte sie entscheiden, mit welcher der beiden großen,
sich in ihrer Koalition auseinanderlebenden Parteien dies geschehen solle.
Als Nachfolger von Erich Mende war im Januar 1968 Walter Scheel zum Bundesvorsitzenden der FDP gewählt worden. Zu seinen größten Schwierigkeiten zählte von vornherein die für seine Partei charakteristische Neigung, zwischen rechts und links zu schwanken. Er war sich alsbald schlüssig, daß der Erfolg seiner Führungsaufgabe davon abhing, den immer wieder kritisierten Eindruck eines unentschlossenen Hin- und Herpendelns der Liberalen zu eliminieren. In dieser Lage bewies Scheel Tatkraft und Mut.
Im allgemeinen Zeichen der Zeit und inbesondere im Licht der wachsenden Unruhe bei den jungen Leuten entschied er sich, mit der im Herbst 1969 kommenden Bundestagswahl für einen Wechsel im Kanzleramt zu kämpfen. Er steuerte die sozialliberale Koalition an. Deutlich erkannte er, daß die kurz zuvor anberaumte Wahl des Lübke-Nachfolgers dafür die wahrscheinlich wichtigste Vorentscheidung sein würde. Denn die Delegierten der FDP in der Bundesversammlung konnten zahlenmäßig dort den Ausschlag geben.
Verborgen bleiben solche Überlegungen natürlich nicht. In der CDU-Führung war man gar nicht von vornherein entschlossen, gegen den Koalitionspartner SPD um das Präsidentenamt zu kämpfen. Wer bei der Union auf die Fortsetzung der großen Koalition hoffte, wollte wenigstens die Möglichkeiten prüfen, sich mit der SPD auf einen gemeinsamen Nachfolger zu verständigen. Warum nicht auf einen Kandidaten der SPD, die das Präsidentenamt noch nie besetzt hatte? Georg Leber hätte dafür der CDU näher gelegen als Heinemann, dessen Aussichten in der SPD inzwischen stark gestiegen waren, der aber auf viele Unionspolitiker wie ein rotes Tuch
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