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Vier Zeiten - Erinnerungen

Titel: Vier Zeiten - Erinnerungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard von Weizsäcker
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Folgen der russischen Revolution.

    In Moskau war die Richtung hin und her gegangen. Die Kreml-Führung war besorgt, daß eine westliche Entspannungspolitik zu einer Aufspaltung innerhalb des eigenen Lagers führen könne. Einige der Mitgliedsländer des Warschauer Paktes gingen in ihren Kontakten mit dem Westen nach sowjetischem Geschmack zu weit, insbesondere Rumänien. Auch kam es in Polen und vor allem unter Dubček im Prager Frühling 1968 in der Tschechoslowakei zu inneren Reformbewegungen, die die Sowjetunion als tödlich für ihr System ansah und mit Gewalt unterdrückte.
    Andererseits suchte aber auch Breschnew nach einer Entlastung für die sowjetische Wirtschaft durch Rüstungskontrollabkommen mit den USA. Ein verstärkter Wunsch nach technologischer und wirtschaftlicher Kooperation mit dem Westen machte sich breit. Dafür hatten die Russen vor allem die Westdeutschen im Auge. Moskau ließ zwar nicht von seinen beiden Hauptforderungen an die Bonner Adresse ab, nämlich Anerkennung der DDR und der Oder-Neiße-Grenze. Es machte diese Forderungen nun aber nicht mehr wie bisher zur Vorbedingung für Verhandlungen. Vielmehr sollten sie selbst Inhalt solcher Gespräche werden. Damit standen wir gegen Ende der sechziger Jahre in Bonn ziemlich unmittelbar vor direkten Kontakten mit Moskau.

Wer wird Nachfolger von Bundespräsident Lübke?
    Wer sollte die Verhandlungen in Moskau führen? Und mit welchem Mandat? Im Vorfeld der für den Herbst 1969 fälligen Bundestagswahlen hatten ostpolitische Divergenzen in der Bonner großen Koalition eher noch zugenommen. Die Wahlen mußten über künftige Regierungskoalitionen entscheiden.
    Davor lag aber noch eine andere, die Wahlen höchst nachhaltig präjudizierende demokratische Entscheidung, die Wahl eines neuen Bundespräsidenten als Nachfolger von Heinrich Lübke. Diese muß ich zunächst schildern, zumal ich selbst in sie einbezogen wurde - zu meiner großen Überraschung.
    Wahlen eines Bundespräsidenten sind merkwürdige Vorgänge. Zumeist sind sie durch lange Vorläufe geprägt. Dabei geht es in den Medien oft lustvoll um Spekulationen über Popularität und Eignung von Personen, wie damals, als eine demoskopische Umfrage wieder einmal den Chef des Hauses Hohenzollern als Spitzenreiter ermittelt hatte. Die Entscheidung liegt aber bekanntlich in den Händen der Bundesversammlung, und das heißt allein bei den Parteien. Diese wollen legitimerweise durch die Wahl ihre politische Position demonstrieren und ihre künftigen Machtchancen stärken.
    Zur spezifischen Spannung dieser Wahlen gehört, daß nicht klar definiert ist, um welche Art von Macht es eigentlich geht. Einerseits ist sie weniger wichtig als die Wahl eines Parlamentsoder Regierungschefs; denn was die Verfassung unter Macht versteht, hat sie ziemlich weit entfernt vom Amt des Bundespräsidenten angesiedelt. Andererseits aber können bei der Besetzung dieses Amtes wichtige Weichen gestellt werden. Sie können die bestehende parteipolitische Machtverteilung bestätigen oder eine aufdämmernde Änderung signalisieren. Zugleich können sie auch Ausdruck tiefer liegender Strömungen einer Epoche sein.
    Wir alle wissen, daß unsere Verfassung die demokratischen
Institutionen und Spielregeln trefflich festlegt, indem sie die Verteilung und Kontrolle der Macht bestimmt. Über Inhalt und Ziele bei der Ausübung dieser Macht enthält sie freilich nur spärliche Andeutungen. Auch kann sie nicht vorgeben, auf welche Weise das Machtgefüge der konstitutionellen Verkehrsregeln von demokratischer Aktivität getragen wird, auf die es für die Lebendigkeit der Verfassung so sehr ankommt. Mit anderen Worten: Das Grundgesetz bezieht seine Vitalität von Voraussetzungen, die es selbst nicht schaffen kann und die in der Mentalität der Zeit und der Bereitschaft der Gesellschaft liegen.
    Nicht mit institutioneller Macht, aber mit solchen Voraussetzungen hat das Amt des Bundespräsidenten zu tun. Ihnen auf die Spur zu kommen, sie zur Sprache zu bringen, sie für den demokratischen Organismus zu mobilisieren, das gehört zur Reichweite dieses Amtes, zu seiner »Macht«. Deshalb haben Wahlen eines Bundespräsidenten auf eigene Weise mit der Atmosphäre ihrer Zeit wesentlich zu tun.
    In besonders hohem Maß galt dies für die Vorbereitung der Wahl eines Nachfolgers von Heinrich Lübke. Es waren die späten sechziger Jahre mit ihrer stetig wachsenden Unruhe vor allem unter der jungen Generation. In Bonn regierte die große Koalition.

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